Spis treści
De profundis
Pro domo mea
1In ein paar Wochen gedenk' ich ein Buch herauszugeben: »De profundis«, dem ich jetzt schon einige Begleitworte an Stelle der Vorrede vorausschicke.
2Ich möchte das Buch nur in wenigen Händen wissen — es ist kein Buch für das Volk — und diesen Zweck glaub' ich dadurch zu erreichen, dass ich es nur in einer sehr beschränkten Anzahl von Exemplaren drucken lasse.
3Ich habe in diesem Buche das Gebiet des sogenannten „normalen Denkens“, also das Gebiet des „logischen Gehirnlebens”, des Lebens in der „Realität” (!) gänzlich verlassen. Alle, die sich auch nur ein wenig mit dem Seelenleben beschäftigt haben, wissen, was das „freisinnige Bürgertum” unter dem normalen Denken versteht: Alles, was über die Begriffssphäre des ehrbaren Müller und Schulze hinausgeht, ist natürlich verrückt. Selbstverständlich ist für diese Menschen Goethe der Maßstab des „normalen” Empfindens, wobei natürlich übersehen wird, dass er in seinen Epigrammen Proben von einer schon ganz schon vorgerückten sexuellen Perversität abgegeben hat.
4Nun ja: dies ehrbare Gehirnleben, dies uniforme Gehirnleben, dessen Denkgesetze sowohl für den niedrigsten Bildungsplebejer von der Sorte Max Nordau wie für den entwickeltsten und scharfsinnigsten Gehirnaristokraten von der Art Nietzsche im gleichen Maße gelten, fängt an, furchtbar langweilig zu werden. Das hat auch Nietzsche eingesehen, und so schrieb er sein „verrücktes” Buch, d. h. sein seelischestes Buch: »Also sprach Zarathustra«…
5In »De profundis« handelt es sich um die Manifestation des reinen Seelenlebens, der nackten Individualität, des Zustandes der somnambulen Ekstase, oder wie die zahllosen Worte auch heißen mögen, die eine und dieselbe Tatsache ausdrücken, die Tatsache nämlich, dass es noch etwas Anderes gebe außer dem dummen Gehirn, ein au delà vom Gehirn, eine unbekannte Macht mit seltsamen Fähigkeiten begabt, nämlich: die Seele — die Seele, die Ekel empfand, in der fortwährenden Berührung mit der lächerlichen Banalität des Lebens zu stehen und sich das Gehirn geschaffen hatte, um sich nicht jeden Tag prostituieren zu müssen…
6Das Surrogat dieses unsichtbaren Seelenlebens: das logische Gehirnleben, kennen wir nun zur Genüge. Das ganze Fazit aller seiner wissenschaftlichen und philosophischen Spekulationen ist ein Ignoramus und Ignorabimus, also eine gänzliche Bankerotterklärung all’ seiner verzweifelten Bestrebungen. Das künstlerische Fazit — risum teneatis amici — ist der Naturalismus, die seelenlose, brutale Kunst für das Volk, die Bürgerkunst par excellence, die biblia pauperum für das schwache „normale” Gehirn, das denkfaule, feige, plebejische Gehirn, das alles erklärt, alles zurechtgelegt haben will, das jede Tiefe, jedes Geheimnis verhöhnt und verspottet und für Verrücktheit erklärt, weil es die Seele hasst, nur weil es sie nicht begreifen kann. Ja! das rohe, stupide Bürgergehirn — die famose vox populi — hasst alles, was es nicht verstehen kann, vielleicht auch, weil es die bekannte Plebejerangst hat, düpiert zu werden.
7Nun ja: man überlasse dem Plebejer, was des Plebejers ist, mit Vergnügen sogar einige Herren, die durchaus „Großgehirnaristokraten” genannt werden wollen.
8Ich meine hier also eine andere Kunst. Die Kunst, die sich in der Malerei nicht mit der banalen Außenwelt, ein paar alten, stupiden Invaliden in Amsterdam zum Beispiel, beschäftigt, sondern der Welt, wie sie sich in der Seele in seltenen Stunden, den Stunden der Halluzination und der Ekstase widerspiegelt. Ich denke auch nicht an die famosen Leoncavallos und die zahllosen Mascagnis, sondern etwa an die Fis-moll-Polonaise von Chopin, diesen grässlichen, nackten Seelenschrei. Ich meine hier auch nicht den feudalen Reinhold Begas, sondern Vigeland. Ja, ich denke jetzt an eine andere Kunst, die Kunst, die das Tageblatt-Bürgertum für verrückt, blödsinnig, impotent usw., usw. erklärt hatte.
9In der Literatur hat diese Kunstgattung im orientalischen Altertum und namentlich im Mittelalter ungemein reiche Blüten getrieben. Ja, namentlich im germanischen Mittelalter. Keine Rasse hat so viele Mystiker, also Menschen, die des reinen visionären Seelenlebens teilhaftig wurden, hervorgebracht, wie gerade die germanische.
10Für die moderne deutsche Künstlergeneration dieser Art, also Künstler, die sich mit den Phänomenen des Seelenlebens beschäftigen, scheint mir Amadeus Hoffmann der Urahn zu sein. Freilich hat Hoffmann an die seelischen Phänomene als solche kaum geglaubt. Er suchte sie rationalistisch zu analysieren, etwa wie ein anderer Herr den Übergang der Juden über das rote Meer durch eine kolossale Ebbe erklären wollte; vielleicht suchte Hoffmann das Rätselhafte der Seele dem fetten Bürgergehirn, auf das er nun einmal aus buchhändlerischen Rücksichten angewiesen war, gegen bessere Überzeugung verständlich zu machen.
11Der nun so gefeierte Edgar Poe hat sich des seelischen Problems als eines wissenschaftlichen Kuriosums bemächtigt, allerdings mit einer künstlerischen Macht, die mit kalten Schauern den Rücken überläuft.
12Es folgen die Revolutionen von 48, die Revolutionen der Bildungssüchtigen und der Aufklärungsbedürftigen, die Revolutionen mit ihren prachtvollen Errungenschaften: dem überflüssigen Parlamentwesen und dem wohlfeilen Presspiratentum. Pressfreiheit! Wundervoll! Das liberale Bürgertum fing an vermöge der Pressfreiheit den Gott abzuschaffen — nein! das wagte es nicht von wegen der Monarchie, die von Gottes Gnaden bestand, aber es hat sein Dasein — auf „wissenschaftliche Gründe” gestützt — angezweifelt. Das liberale Bürgertum durfte aber wenigstens die Seele abschaffen und ihre unleugbaren Offenbarungen als Blödsinn und Humbug erklären. Gott, wie es sich gefreut haben mag, als der Spuk von Resau endlich entdeckt und gerichtlich abgeurteilt wurde!
13Mittelmäßige, beschränkte Geister kommen zur Herrschaft: die Büchners, die Vogts, die Strauß, die Spencers und die Psychophysiologen und wie sie alle heißen mögen, die Braven.
14Das goldne Zeitalter des Materialismus und des Berliner Tageblattes, des naturalistischen Dramas und der freisinnigen Politik!
15Erst in der jüngsten Zeit hier und da Einer, der verwundert vor irgend einer seelischen Offenbarung stehen bleibt, vor einem langen Blick, der in später Stunde[1] gewechselt wird und den ganzen Menschen aufwühlt. Hier und da Einer, der Angst bekommt vor einem momentanen Blitz der Seele, der durch das Gehirn fährt und das Unterste zu oberst kehrt. Hier und da Einer, dem etwas zu Bewusstsein kommt, etwas Fremdes, Furchtbares, etwas, wovon er sich keine Rechenschaft geben kann: eine Idee, die — mag sie noch so schön physiologisch erklärt werden — nicht in den Ideengehalt seines Gehirnes hineinpasst, eine Tat, die unabhängig von dem Gehirnwillen, ja trotz des Gehirnwillens geschah. Das liberale Bürgertum hat dies alles für Verrücktheit erklärt, die famosen bürgerlichen Psychiater haben dafür den schönen Ausdruck „Psychopathie” gefunden, und der senile Schwachkopf Max Nordau hat sogar darüber zwei Bände geschrieben, lehrreich für eine Alterserkrankung dieses Herrn, an der bekanntlich schon Cicero litt.
16Eine neue, unbekannte Künstlergeneration tritt also auf. In Belgien — (Ich sehe hier von den sonderbarerweise anerkannten und Gottseidank nicht verstandenen Künstlern wie Huysmans und Maeterlinck ab) Verhaeren, Krains, Eckhoud, — in Skandinavien Ola Hansson — in Polen Przesmycki, — in Deutschland Dehmel und Schlaf. Freilich scheint Dehmel den Weg, den er mit solcher Macht und solcher Sprachgewalt in „Aber die Liebe” betreten hat, jetzt in seinen „Lebensblättern” verlassen zu wollen. Unter den Ländern aber, in denen diese literarische Revolution mit besonderer Kraft und Begeisterung geführt wird, scheint mir Böhmen obenan zu stehen. In der Reihe äußerst begabter und intelligenter Künstler nenne ich hier nur Machar und Jirí Karásek.
17So weit musste ich ausholen, um den Zweck meiner jüngsten Publikation zu rechtfertigen.
18Was ich also mit meinem »De profundis« bezwecke, ist einzig und allein, ein seelisches Phänomen darzustellen — ich denke die Seele immer im schroffsten Gegensatz zum Gehirne. Das ist alles. Aber ja: die Handlung! Hm, die Handlung, vielleicht auch Situation, Verwicklung, Intrige usw. Ich pflege keine Handlung zu haben, weil ich das Leben der Seele schild're und die Handlung ist nur eine Kulisse der Seele, eine schlecht bemalte Kulisse, wie sie auf einer Liebhaberbühne einer Kleinstadt zu sehen ist. Das Leben bedarf keiner Handlung, um Konflikte zu erzeugen. Dazu genügt ein harmloser Gedanke, der nach und nach vom ganzen Menschen Besitz nimmt und ihn zu Grunde richtet.
19Man sollte mir ja nur nicht wieder mit dem dummen Vorwurf kommen, ich sähe die Menschen nur auf das Geschlecht hin. Nun: ich sehe die Menschen weder „darauf hin”, ob sie geniale Geschäftsleute sind oder nicht, noch „darauf hin”, ob sie in einer scheußlichen finanziellen Misere leben oder sich Pferde und Maitressen halten können, noch „darauf hin”, ob Hans die Grethe kriegt oder nicht, ich sehe sie ebensowenig „darauf hin”, was sie sonst als „logische Gehirnmenschen” sind, oder was sie als solche leisten können, eventuell leisten könnten, ebensowenig, wie ich jemals ein Möbelstück oder ein Zimmerarrangement beschrieben habe: ich sehe die Menschen lediglich „darauf hin”, ob es in ihnen jemals zur Offenbarung der Seele kommt oder nicht. Und weil es seltene Fälle sind, in denen sich die Seele offenbart, einmal vielleicht, wie nur einmal der heilige Geist über die Apostel kam, so sind die Fälle, die ich analysiere, eben sehr seltene Fälle.
20Das Einzige, was mich interessiert, ist also nur die rätselhafte, geheimnisvolle Manifestation der Seele mit all’ ihren Begleiterscheinungen, dem Fieber, der Vision, den sogenannten psychotischen Zuständen — doch ich will meine literarischen Freunde mit der bürgerlichen Psychiaternomenklatur nicht erheitern.
21Ich schreibe: man sollte mich mit dem Vorwurf verschonen, ich wage es allerdings nicht zu hoffen. Aber ebensowenig wie ich etwas dagegen vermag, dass im ganzen Mittelalter die seelischen Offenbarungen durchweg nur auf dem Gebiete des religiösen Lebens zu finden sind, ebensowenig kann ich etwas an der Tatsache ändern, dass in unserer Zeit die Seele sich nur in dem Verhältnis der Geschlechter zu einander offenbart. Mag man dafür der Seele die Vorwürfe machen, nicht mir. Denn alle sonstigen seelischen Phänomene der sogenannten „weißen Magie” entfallen ebenso wie früher auf das Gebiet des religiösen Lebens.
22Wenn ich von der Offenbarung der Seele im Geschlechtsleben spreche, so meine ich natürlich nicht die fade, brave, komisch-pikante Erotik eines Guy de Maupassant, noch die süßlich-widerliche Unterrockspoesie für Konfektionösen eines Peter Nansen, noch die gesättigte Gleichgültigkeit des Ehebettes. Was ich meine, das ist das schmerzhafte, angsterfüllte Bewusstsein einer unnennbaren, grausamen Macht, die zwei Seelen aufeinander wirft und sie in Schmerz und Qual zusammenzukoppeln sucht, ich meine die intensive Liebesqual, in der die Seele bricht, weil sie sich mit der anderen nicht zu verschmelzen vermag, ich meine das enorme Vertiefungsgefühl in der Liebe, wo man in der Seele tausend Generationen tätig fühlt, tausend Jahrhunderte von Qual und abermals Qual dieser Generationen, die an Zeugungswut und Zukunftsbrunst zu Grunde gingen, ich denke nur an die seelische Seite in dem Liebesleben: das Unbekannte, Rätselhafte, das große Problem, das Schopenhauer zuerst ernsthaft in seiner „Metaphysik der Liebe” aufgeworfen hatte, freilich mit wenig Erfolg, weil die logischen Mittel für das Unlogische der Seele nicht ausreichen. Unsere Zeit, die überhaupt keine Probleme hat, die nicht schon durch die „tiefsten Geister” gelöst waren, kennt die Liebe nur als eine Ökonomische und sanitäre Frage, und es ist ganz natürlich, dass für die bürgerliche Kunst die Liebe nur als der mehr oder weniger selige Weg in das finanziell und gesundheitlich geregelte Ehebett besteht. So kam es, dass dies tiefste Seelen– und Lebensproblem nur äußerst wenige Denker gefunden hat. Und sonderbar genug, dass gerade in einer solchen Zeit ein Künstler — allerdings auf dem Gebiet der „bildenden” Kunst — erstehen sollte, der in die schauerlichen Geheimnisse und Abgründe des Geschlechtslebens weit tiefer eingedrungen ist, als irgend ein Philosoph vor ihm: Félicien Rops.
23Man sehe sich seine Werke an, und man wird verstehen, was ich unter der Offenbarung der Seele im Geschlechtsleben meine. Hier nur ein paar Worte, wie Félicien Rops den ewigen Erreger der Liebesgärung, das Weib, auffasst, um gleichzeitig auf die enorme Distanz zwischen dieser und der bürgerlichen Kunst hinzuweisen.
24Für die bürgerlichen Künstler ist das Weib ein Spielzeug oder ein unglaublich edles Wesen, eine Kokotte, oder eine steif verschnürte, unnahbare Größe, sie ist ein Miezchen oder eine präraffaelitische Kunigunde… he, he, wie singen doch unsere braven Lyriker von den verschiedenen Fräuleins?
25Für Rops ist das Weib eine furchtbare, kosmische Macht. Sein Weib ist das Weib, das in dem Manne das Geschlecht wachgerufen hat, ihn an sich mit tausend wohlfeilen Listen kettete, ihn zur Monogamie erzog, die Männerinstinkte durcheinanderwarf, sie schwächte, verschob und verfeinerte, die Elemente seiner Begierden in neue Formen ordnete und ihm das Gift seiner teuflischen Lüste in das Blut impfte.
26Und in der schmerzhaften Ekstase des Schaffens hat er die längst verlorenen Verbindungen wiedergewonnen, die uns an unsere mittelalterlichen Vorfahren knüpfen. Er ist nicht mehr der Mann, der sein Leben einsetzt für den lächerlichen Preis des Fünfsekundengenusses, er leidet nicht mehr unter dem Weibe, er bäumt sich auf in dem wilden Hass gegen die furchtbare, zerstörende Kraft und wird zu einem fanatischen Ankläger, der in der Raserei gegen seine eigene Natur das Weib unter Umständen dem Feuertode preisgeben würde, um die Welt von dem „größten aller Übel”, dem Weibe, zu befreien.
27Und hier steht er vollkommen im Einklänge mit den mittelalterlichen Diabologen. Man lese nur die Doktoren: Bodinus, Sinistrari, Del Rio, Sprenger… Zwei Welten schmelzen ineinander und begegnen sich in einer und derselben visionären Erkenntnis der Wurzel alles Daseins, der Wurzel jeglichen Schmerzes und aller Qual.
28Soll ich nun jetzt vielleicht motivieren, warum ich in »De profundis« ein „succubat” — der Deutsche scheint keinen passenden Ausdruck dafür zu haben — geschildert habe, dies grässliche succubat» das der ganzen großen Kultur des Mittelalters in der grandiosen Schöpfung des Teufels und der Hexe den Stempel aufgedrückt hatte?
29 30Ja, noch etwas: Die bürgerliche Kritik schreit so entsetzlich nach Kraft und Gesundheit. Sonderbar? Es gab wohl keine Zeit, die mehr stupid, mehr protestantisch und mehr borniert wäre, als die unsrige. Ist das nicht Gesundheit genug? Ist das nicht Gesundheit genug, dass unsere Zeit so krankhaft seelenlos ist? Und würden die Kraftmeier, die famosen Abse der Literatur nicht einmal zur Abwechselung ein solches Werk mit Interesse lesen können, ohne es gleich in den Schmutz zu ziehen und den Verfasser einen dekadenten Wüstling zu nennen?
De profundis
31Er ging müde und wie zerschlagen nach Hanse. Es fröstelte ihn trotz der tropischen Hitze. Im Halse fühlte er feine, scharfe Stiche wie von glühenden Nadeln.
32Jetzt würde er wohl ernstlich krank werden. Er fühlte es kommen. Und gerade hier: in einer fremden Stadt …
33Er ging schnell die Straße entlang. Nach Hause. Bald trat ihm kalter Schweiß auf die Stirne, eine unangenehme feuchte Hitze kroch schwül über seinen Körper, und die Stiche im Halse wurden noch häufiger und schmerzhafter.
34Die Angst wühlte sich tiefer und banger in sein Blut: er begann zu laufen.
35Oben auf seinem Zimmer warf er sich aufs Bett.
36Sein Herz schlug gewaltsam. Er fühlte, er hörte die feinsten Adern klopfen und zittern und sich in wachsender Macht mit Blut füllen, als ob sie platzen wollten.
37Er setzte sich behutsam im Bett zurecht, nun reckte er sich langsam hoch: es wurde noch schlimmer. Er schob die Kissen gegen die Wand, legte sich halb hin, presste die Stirn gegen die kalte Wand und horchte auf das Fieber.
38Allmählich glättete es sich in ihm. Das Blut floss langsam zum Herzen zurück. Er hustete frei auf, ohne Schmerzen.
39Er wartete. Ob es nicht wiederkäme?
40Nein: Das Herz schlug fast ruhig, nur seine Hände fieberten und er war wie gebadet in Schweiß.
41Er knöpfte langsam die Kleider auf und trocknete sich die Stirn. Nur seine Hände: sie glühten so heiß und so feucht.
42Nun ja: es war nicht das erste Mal. Es wird sicher vorübergehen.
43Seltsam, dass er jedes Mal, wenn er von seiner Frau wegfuhr, von diesem Fieber befallen wurde. Jetzt sollte er sie hier haben: nur ihre Hände festhalten, und alles würde gut werden. Er wurde sicher gleich einschlafen… Wieder begann es in ihm zu schwellen. Sein Körper fing von Neuem an zu zittern, es würgte ihn im Schlund und seine Fäuste ballten sich krampfhaft.
44Eine kranke Sehnsucht nach ihren Händen, eine quälende Gier, ihren Leib an sich zu pressen, sein Gesicht auf ihre Brust zu legen: deutlich fühlte er ihre Hand mit leisen Schauern über seinen Körper gleiten und rinnen. Das Gefühl wurde so visionär deutlich, als wäre sein Tastsinn ein Organ für sich geworden mit einem selbstständigen Gedächtnis: Er unterschied die feinste Gefühlsnuance, die er doch sonst nur bei der wirklichen Berührung ihres Körpers empfand.
45Und die Sehnsucht fing an zu sprießen und schwoll und schoss wild hinauf. Die Qual krümmte seine Finger und zerrte an seinen Nerven, er kauerte zusammengekrampft, als wollt' er sich in seinen eignen Leib einwickeln.
46Er fuhr auf und kam zur Besinnung. Sein Herz lief, eine rasende Angst bäumte sich steil in ihm hoch. Mit wachsendem Entsetzen hörte er auf das Klopfen und Brausen in seinem Körper. Er fühlte das Blut mit wütendem Drang die Gewebe anfüllen und auseinanderreißen.
47Er sprang auf, blieb stehen, dumpf, starr. Seine Glieder flogen und seine Zähne klapperten in Fieberfrost.
48 49Er durfte sich um Gotteswillen nicht eine Sekunde dieser Qual hingeben, sonst wurde er sicher die Nacht nicht überleben.
50Mit zitternder Ungeduld suchte er nach den Streichhölzern. Die Vorstellung, dass er sie vielleicht nicht finden würde, brachte ihn der Ohnmacht nahe, er tappte umher und atmete tief auf: sie waren da.
51Er zündete das Licht an und blieb lange reglos stehen.
52Nun musste er an etwas denken, an irgend etwas Gutes und Ruhiges, etwas, das sich wie ein Ruhekissen unter seinen Kopf schöbe.
53Plötzlich entdeckte er einen Brief — auf dem Tisch mitten unter seiner Wäsche.
54Dass er den ganzen Tag nicht daran gedacht hatte, nachzusehen, ob ein Brief da wäre.
55Es ging etwas Besonderes in ihm vor. Er ging ganz wie im Traum. Und jetzt hatte er keinen Mut, den Brief zu öffnen. Wenn irgend etwas Unangenehmes drin stand! Das wurde sicher sein Gehirn zerstören.
56Da wurde er wütend. Lächerlich, dass ihn das bisschen Fieber so herunterbringen konnte. He, he: ein bisschen Fieber nicht überwinden zu können! He, he: das bisschen Fieber wurde er schon überwinden. Er hatte ja doch schon viel Schlimmeres durchgemacht…
57Über seinem Gehirn lag etwas wie eine feine Eisplatte. Das kühlte förmlich. Er wurde plötzlich so ungewöhnlich klar. Aber es war, als würde die Gehirnmasse verdrängt, tiefer gepresst, die kühle Eisplatte wuchs zu einem Eisklumpen an, die Kälte begann weh zu tun: jetzt fuhr es ihm in langen, glühenden Striemen über den Rücken: er lachte heiser auf.
58Na natürlich! Ein ganz gewöhnliches Fieber…
59Er zerknitterte krampfhaft den Brief.
60Ein ganz gewöhnlicher Fieberanfall… Er begann zu pfeifen.
61Nun fühlte er lange Nadelstiche in der Brust.
62Aha: alte, gute Bekannte… Wieder lachte er laut: das würde ihn sicher nicht aus dem Konzept bringen, dazu müsste die Tortur viel, viel schmerzhafter sein.
63Er ging langsam herum, lachte und pfiff.
64 65Aber der Rauch machte ihn schwindlig.
66Nicht einmal rauchen durfte er: das war doch wirklich schändlich. Das hatte aber doch nichts zu bedeuten, er war nur sehr schwach. Natürlich: wenn man nicht isst, wird man schwach.
67 68Er zerriss resolut das Kuvert, aber die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, er sah lange hin, sammelte seine ganze Willenskraft und zwang sich schließlich, den Brief zu lesen und zu verstehen.
69Er las langsam. Die Buchstaben waren so sonderbar lebendig. Als hörte er ihre Stimme, nur in einer neuen Form gegliedert:
70Mein teuerster, mein einziger Mann, Du — Du… mein!
71Schon eine Woche, seit Du weg bist. Willst Du noch länger bleiben?
72Ich bin neugierig, was Du den ganzen Tag über in der Stadt machst. Hast Du Deine Mutter besucht? Natürlich nicht. Aber mit Agaj bist Du oft zusammen, nicht wahr? Es muss ihr doch sehr schwer sein, fortwährend zwischen Dir und Deiner Mutter zu vermitteln. Sie ist ein so prachtvolles Mädchen. Ich liebe sie fast eben so sehr wie Dich und ich habe so oft über ihre Liebe zu Dir nachgedacht. Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eine Schwester. Ich habe nie etwas Ähnliches unter Geschwistern gesehen? Bist Du sehr oft mit ihr zusammen?
73Und morgen werden es zwei Jahre, seit wir verheiratet sind. Denk nur: zwei Jahre! Hast Du den Tag vergessen? Ich bekomme doch sicher morgen einen langen, schönen Brief von Dir? Oder — oder? Ich wage es nicht zu hoffen, aber vielleicht kommst Du selbst?
74Nein, nein, komm lieber nicht. Ich habe das Gefühl, dass es Dir in der Stadt gefällt, und das macht mich glücklich. Du hast so entsetzlich gearbeitet und jetzt musst Du ein bisschen Abwechslung haben, ein wenig Luftveränderung, nicht wahr?
75Aber wenn Du kämest, das wäre wunderbar. Ich liebe Dich — Du!
76Du fühlst Dich doch sehr wohl — wie? Dann bleib' nur lieber, bleib', mein Teuerster Du!… Und weißt Du, ich bin manchmal eifersüchtig auf Agaj, ich habe Angst, dass Du sie mehr liebst wie mich. Aber das ist doch Unsinn, nicht wahr? Du musst sie tausendmal von mir grüßen und ihr sagen, dass ich sie liebe, dass sie meine einzige Freundin ist.
77Nun leb' wohl. Du, mein Liebling. Tausend Küsse von Deinem Weib.
78Er fing an, den Brief wieder von vorn zu lesen.
79„Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eine Schwester…”
80Ein heftiges Licht durchfurchte seine Seele.
81Er sah deutlich Agaj vor sich sitzen. Das schwarze seidne Kleid schmiegte sich mit warmer Wollust um die schlanke, magere Gestalt. Er fühlte durch das Kleid die feinen, zarten Glieder.
82Er ließ sich in den Fauteuil sinken.
83Sie wich nicht von ihm. Immer sah er sie dicht, dicht neben sich. Er entkleidete sie mit den Augen, er wühlte in ihrer Nacktheit, er begehrte sie: sein Gehirn begann in einem gierigen Taumel zu wirbeln.
84Aber Agaj ist ja meine Schwester! schrie er entsetzt in sich hinein.
85Da hörte er sie plötzlich sprechen. Er verstand nun alles, was er noch vor drei Stunden nicht verstehen konnte.
86„Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eine Schwester…”
87Die paar Worte schlugen sich tief in seine Seele. Es war, als wäre dort ein Pünktchen Licht hineingefallen, das nun plötzlich zu einer Feuersbrunst ausgewachsen war.
88„Als Du das letzte Mal ins Ausland fuhrst, glaubt ich, dass ich verrückt würde.”
89Er hörte es damals fast gleichgültig an, und jetzt, jetzt endlich verstand er es.
90Er riss die Augen auf. Er riss sie noch weiter auf: das furchtbare Licht blendete ihn.
91Er kroch ganz in sich zusammen. Ein schmerzhafter Wollustkrampf fraß saugend an seinem Hirn, er wehrte sich nicht: die Schauer einer gierigen Lust krochen wie Gift in jeden Nerv seines Körpers.
92 93Das war das grässliche Fieber! Gott, Gott, was sollte er nur anfangen? Er musste wachen, er musste lauern und wachen, dass es nur nicht wiederkäme. Seine eigne Schwester!… Aber das ist ja Wahnsinn…
94Er lachte irrsinnig. Er lachte lange, bis er Angst vor seinem Lachen bekam.
95Natürlich war es das Fieber. Dass er dagegen so machtlos war!… Er musste ins Bett zurück. Ja, sich ganz lang hinlegen, dass das Herz sich wieder beruhige.
96Er entkleidete sich und legte die Streichhölzer dicht neben sein Bett.
97Ich werde sie wohl bald wieder brauchen, lächelte er seltsam.
98Nun löschte er die Lampe aus. Eine unerträgliche Hitze. Die Decke lastete auf ihm wie ein Alp: er warf sie ab.
99Plötzlich mit einem Ruck spannte sich sein Gehirn ab, eise glückliche Ruhe kam über ihn.
100Ein paar Gedankenbrocken gingen langsam durch seine Seele, zögernd, zerrissen, wie Wolkenlappen nach einem Gewitter. In seinen Augen flackerte ein winziges Lichtchen, wie ein Irrlicht über einem grünen Sumpf. Er verfolgte es, wie es sich in zackigen, steilen Linien emporwarf und wieder herunterfiel, schwer und jäh wie ein gefallener Stern. Er sah es über dem Sumpf blitzschnell dahinschießen und dann wieder in irren Kreisen tanzen, schneller und schneller, bis es schließlich wie eine glühende Lichtmasse fahl den Sumpf umlohte. Und die grüne, fahle Sonne wuchs, schwoll, goss sich kochend über, leckte an dem Dunkel mit gierigen Zungen und zerfraß es zu blutigen Fetzen. Und da schossen die Zungen in schmetternden Sturmfanfaren jäh hinauf — höher noch: mit wüster Macht warfen sich die Sonnenbrände steil empor, bis sie am Himmel zerschellten. Noch sah er sie drängend emporzüngeln, dann brachen sie langsam an der Spitze, krochen zögernd ineinander und verschlangen sich in einem brünstigen Geflecht.
101Und aus dem kochenden Orkan des Lichtes wuchs ihm ein entsetzlicher Gesang hervor.
102Eine Verzweiflung wie vor tausend offenen Gräbern. Als hatte sie der Himmel geöffnet und der Menschensohn stiege hernieder, um das Gericht über die Guten und die Bösen zu halten. Millionen Hände fühlte er sich in verblutendem Todeserethismus emporrecken mit Fingern, die um Mitleid und Gnade schrien. Er hörte ein tierisches Gebrüll, das wie ein Meer von dampfendem Blut in kochendem Gischt zum Himmel spritzte, und immer fühlte er die knochigen Finger sich krallen und spreizen und im brechenden Schmerzenskrampfe schreien:
103„Ad te clamamus exules filii Hevae, ad te supiramus gementes et flentes in hac lacrymarum valle”…
104Und er sah einen Zug von Tausenden von Menschen vorbeirasen, gepeitscht von einer brutalen Ekstase des Unterganges, unter einem Himmel, der das Feuer und die Pest auf sie herabspie. Er sah die Seele dieser Kreaturen in dem ekelhaften Veitstanz des Daseins sich wälzen und zucken, er sah den zerfleischten Rücken einer ganzen Menschheit und die Verzückung des Wahnsinns in dem vertierten Auge.
105Und langsam hörte er den Zug sich entfernen, die dumpfen, qualtrunkenen Töne klangen wie das Röcheln der letzten Agonie und die kupferrote Flammensonne warf grüne, schillernde Lichtstreifen über die Sümpfe von Blut.
106Ad te clamamus exules filii Hevae! hörte er plötzlich in sein Ohr kichern: ein Weib glitt in sein Bett. Ihre Glieder wanden sich langsam um seinen Körper, zwei schmale Arme umklammerten ihn fest, schmerzhaft fest, und er fühlte die Spitzen zweier Mädchenbrüste sich in seinen Körper hineinglühen.
107Er erstickte. Sein Herz schlug nicht mehr, nur ein geller Sturm der Wollust zerwühlte sein Hirn. Ihr heißer Atem versengte sein Gesicht, und ihre Lippen saugten sich ächzend an seinem Munde fest. Wie weißes Eisen glühte ihr Leib.
108Da fühlte er wieder den Zug herannahen, sich wie einen Knäuel von verstrickten Leibern dumpf und schwer heranwälzen: ein Knäuel von Leibern, die sich bissen, mit rasenden Fäusten auf einander losschlugen, sich zerstampften und in Höllenqualen auseinanderrissen, aber sich nicht zu trennen vermochten. Der Gesang wurde zu einem Geheul von wilden Bestien, die Verzweiflung kreischte grell in dem verblutenden Hallelujah des Vergehens.
109Er lachte, er schrie mit, aber er ließ das Weib nicht los. Er fraß sich mit den Fingern in ihren Leib. Ihr Herz fühlte er in seinem Körper klopfen, schwer, dumpf wie einen Klöppel gegen die geborstene Metallwand der Glocke, zwei Herzen fühlte er plötzlich Blut in sein Gehirn emporschießen, sich an einander reiben, und einander wund zerschürfen.
110„Ad te supiramus gementes et flentes in hac lacrymarum valle”…
111Die Verzweiflung kippte um in einen Abgrund von Tollwut und die Finger brachen in Hass, in eine zuckende, geifernde Blasphemie, er fühlte den Menschenknäuel den Himmel anspeien, er hörte ihre Lungen in einem grässlichen Schrei auseinanderreißen: Mörder! Mörder!
112Jetzt erlahmten seine Hände, er ließ sie los. Und da wälzte sie sich über ihn, er hörte sie schreien, er fühlte, wie sie mit den Zähnen ihm die Halsadern zerschnitt, wie sie ihre Hände wühlend in seinen Körper vergrub.
113Und von Neuem steifte sich sein Körper. Er warf sich über sie her, er legte sich über sie mit verzweifelter Kraft: Ihr Leib wand und bäumte sich. Aber er war stärker. Er fesselte den widerspenstigen, zuckenden Körper mit Händen und Beinen, sein Leib warf sich ein paar Mal auf und ab im schmerzhaften brutalen Krampf: der wilde Sturm barst in einem langen, verröchelnden Laut.
114Noch hielt er fest ihren Leib umschlungen. Ihre Glieder lösten sich. In ihren Händen zuckte sein Herz wie eine verlöschende Flamme. Die letzte Schauerwoge verebbte: ein unsagbar ruhiges Glück tauchte in sein Blut.
115Da: plötzlich fühlt' er sie entweichen, ihre Glieder glitten langsam an seinem Körper entlang; er griff nach ihr, verzweifelt sprang er ihr nach…
116 117Im selben Nu stolperte er, stürzte lang hin und kam zu Bewusstsein.
118 119Da warf er sich auf das Bett, die Angst nestelte auflösend an seinem Hirn.
120Das war nicht Traum, das war mehr wie es jemals in der Wirklichkeit sein konnte, tausendmal mehr, schrie er in sich hinein… Sollte er wirklich wahnsinnig werden?
121Mit letzter Kraft warf er alle Gedanken aus dem Kopf, mit Verzweiflung klammerte er sich an eine dumme Erinnerung, aber das Hirngespinst seines Fiebers goss sich schäumend über seine Seele: er fühlte so lebendig die Wollustraserei ihres Körpers, seine Lippen waren wund, sein Körper wie gebrochen von der Brunst ihrer Umarmung.
122Das war Agaj — der Alp Agaj — der Vampir Agaj!
123 124Sie war es wirklich, sie konnte zugleich an zwei Stellen sein. Sie konnte sich teilen, und jetzt war sie bei ihm.
125Er fühlte, dass die Angst ihn jetzt töten würde. Er wollte Licht anzünden. Seine Hände zuckten und flackerten. Endlich gelang es ihm.
126Das beruhigte ihn einen Augenblick.
127Und plötzlich, wieder von Neuem kam über ihn ein wilder Paroxysmus von Gier und Sehnsucht nach Agaj. Und schon wollte er sich von Neuem in die Fieberorgie dieser blutschänderischen Wollust werfen. Er brauchte nur das Licht auszulöschen, und er wurde es von Neuem erleben.
128Aber die Angst schoss in ihm empor. Ein Strom von Angst staute sich in seinem Hirn: das würde sein Leben kosten.
129Er faltete krampfhaft die Hände und suchte stöhnend nach Erlösung.
130Endlich packte er gierig ein Buch, das auf dem Nachttisch lag: Auf der ersten Seite sein eignes Portrait.
131Er sah flüchtig hin: sein Blut gerann vor Schreck. Er sah wieder hin: die Linien schienen lebendig zu werden, das Gesicht wuchs, bekam Leben, schien sprechen zu wollen…
132Er blätterte ein paar Seiten um und fing an laut zu lesen. Aber seine Stimme klang ihm dröhnend im Gehirne wieder, und er hatte das Gefühl, dass der Andre im nächsten Moment hervorkriechen werde, bald, bald werde er aus dem Buche herauswachsen und ihn anstarren…
133Das ganze Buch bekam etwas Lebendiges, es schien sich in seinen Händen zu bewegen, er warf es entsetzt weg, aber es bewegte sich, es kroch auf dem Boden umher, der Andre arbeitete sich mühsam hervor, jetzt, jetzt würde er ihn sehen…
134Er sprang rasend aus dem Bett, warf sich mit seinem ganzen Körper über das Buch, packte es dann mit den Händen, würgte es, riss es auseinander, aber er fühlte, dass er hochgehoben wurde, gewaltsam, wie von einer Winde hochgeschraubt…
135Das ist Wahnsinn, das ist Wahnsinn! schrie es in ihm. Er sprang auf, stierte wie abwesend auf das Buch: die Vision war vorüber, aber er hatte Angst es aufzuheben. Endlich kam er zu sich.
136Er setzte sich hin: Ohnmacht umfing lähmend sein Herz. Er sank auf das Bett und stierte in stumpfer Verzweiflung auf die Decke.
137Da stellte sich plötzlich die Erinnerung an die Orgie, die er soeben durchlebt hatte, wieder ein.
138Ein krankes Verlangen begann ihn zu peitschen, seine Kräfte gaben nach, schon fing er an zurückzusinken, da stand er mit einem Mal ganz mechanisch auf, ohne im Geringsten daran zu denken oder es zu wollen, kleidete sich wie in einem somnambulen Traum an und ging auf die Straße.
139Er sah sich um: er war wirklich auf der Straße. Es wurde ihm nicht ganz klar, wie er heruntergekommen war. Aber er war glücklich, dass er nun weg, weg war von dem entsetzlichen Zimmer, wo Satan seine Messe feierte.
140Jetzt musste er an Satan glauben, murmelte er tiefsinnig, ja an Satan und an seine raffinierte, grausame Geschlechtsmesse…
141Er setzte sich hin auf die Stufen eines Denkmals, vergrub den Kopf in beide Hände und verfiel in einen fiebrigen Halbschlaf.
142Da schrak er zusammen: Jemand war dicht vor ihm stehen geblieben.
143Er sah auf. In dem Zwielicht des ersten Morgengrauens sah er ein Mädchen, sah nur, dass sie sehr blass war und große weite Augen hatte.
144 145— Ich will mit Dir gehen, sagte er und stand auf.
146— Komm! Sie ging schnell voraus.
147— Geh' nicht so schnell, geh' langsam. Ich habe eine entsetzliche Angst… Aber Du wirst meine Hände halten, dann werd’ ich gleich schlafen… Ich bin gar nicht wie andere Männer, gar nicht, fügte er nach einer Pause hinzu.
148 149Er merkte plötzlich, dass er sprach, ohne es zu wissen.
150 151— Du bist ja noch ein Kind, sagte er erstaunt, ich könnte Dich ja auf meine Hände nehmen und tragen. Und Du gehst so leicht, dass ich kaum Deine Schritte höre…
152— Komm, komm: es ist noch weit.
153— Weit? Aber ich kann ja kaum gehen.
154 155Er fühlte plötzlich eine neue Kraft.
156— Und Du wirst meine Hände halten, fest, sehr fest, selbst im Schlaf, willst Du?
157 158 159 160 161 162 163Sie gingen eine Treppe hinauf.
164— Nun komm, komm, sie küsste ihn flüchtig, wir sind beide so entsetzlich müde, so entsetzlich müde, wiederholte sie nachdenklich. Ich werde bei Dir schlafen und immer Deine Hände halten.
165Er legte sich hin und nahm sie in seine Arme wie ein Kind.
166Sie schlang die Arme um seinen Hals.
167— So fühlst Du mich stärker, sagte sie ernst.
168— Wer bist Du? fragte er leise.
169 170*
171Sie saßen auf der Veranda eines Restaurants.
172Es war später Nachmittag. Die Häuser warfen schwere, satte Schatten über die breite Straße. Das dichte Laub der Bäume war gesprenkelt mit purpurnen Flecken. Weiter ab ein Baum, dessen Blätter schon ganz gelb waren und abwärts die Straße entlang flirrte unruhig eine ganze Farbenskala von fiebrigem Purpur bis zum welken Weißgelb hinab: er bekam ein plötzliches Interesse für die Tausende von Farbennuancen…
173— Nun, warum sprichst Du denn kein Wort? Sollen wir den ganzen Nachmittag so stumm dasitzen?
174 175Er sah sie an und lächelte seltsam.
176 177 178Sie starrten sich lange an. Sie wurde rot und senkte die Augen.
179— Noch nie hast Du mich so angesehen, murmelte sie leise.
180 181— Ja, Agaj, ich habe Dich noch nie so angesehen. Du hast Recht. Aber Du bist mir nicht mehr das, was Du mir gestern warst. Ich bin neugierig auf Dich. Ich kannte Dich bis jetzt nicht.
182 183— Ich sehe Dich anders an, als ich Dich gestern angesehen habe… Er schwieg eine Weile. — Warum ich nicht spreche? Ich will Dir nichts Furchtbares sagen.
184Sie warf den Kopf hoch und starrte ihn herausfordernd an.
185— Aber darauf wart' ich ja die ganze Zeit — auf dies Furchtbare. Mein ganzes Leben, vierundzwanzig Jahre wart' ich auf dies Furchtbare! Sag' es doch endlich.
186Er wühlte in ihr mit seinem Blick. Sie sah zur Seite.
187— Es ist mein Ernst, Agaj! Ich bin heute ganz sonderbar ernst. Ich war in meinem Leben nicht so ernst.
188— So? So? Aber warum solltest Du nicht ernst sein?
189 190— He, he, Du bist neugierig, Du willst mich herausfordern… Aber weißt Du denn nicht, was ich Dir zu sagen habe? Fühlst Du es nicht?
191 192— Fühlst Du es nicht? Er erbebte.
193 194Sie stieß das Glas an und trank es aus.
195— Trink doch, lachte sie. Du willst wohl Abstinenzler werden? He? Hast wohl wieder Fieber? Armer Du!
196Er trank hastig; seine Hand zitterte.
197— So sag' doch endlich das Furchtbare! Siehst Du nicht, wie ich neugierig bin?
198 199— Warum solltest Du es verschweigen? Sie lachte höhnisch. Aber trink doch, trink! Deine Adern klopfen, als wollten sie Dir die Haut zerreißen.
200 201— Agaj, erinnerst Du Dich an die furchtbare Nacht — damals…
202 203 204 205— Oh, oh — Du erinnerst Dich sehr gut. Seit zwölf Jahren denkst Du immer daran. Warum lügst Du? He, he… Du warst wohl zwölf Jahre damals, dreizehn — wie? Du hattest Angst vor dem Gewitter und kamst zu mir ins Bett, ich sollte Dir Märchen erzählen…
206 207— Und ich erzählte Dir die ganze Nacht hindurch. Ich habe mich gequält, etwas Neues zu erfinden. He, he… Du warst so verwöhnt, Du schliefst ja immer bei mir…
208 209Ihre Finger liefen unstet und in nervöser Aufregung auf dem Tisch herum.
210— Es regnete Blitze and Feuer vom Himmel. Und jedesmal, wenn der Himmel barst und unser Schlafzimmer in grünem Lichte stand, bekreuzigten wir uns und beteten: Und das Wort ist Fleisch geworden… He, he, erinnerst Du Dich nicht? Und der Ritter ritt auf einem schwarzen Pferd, und das Pferd hatte gold'ne Hufe. Sie glänzten in der Sonne, dass die Menschen blind wurden… Wieder krachte der Himmel: Und das Wort ist Fleisch geworden… Und da kam der Ritter an einen Berg, der von einem Riesen bewacht war… Und das Wort… Nicht wahr? So ging es die ganze Nacht über. Und da plötzlich: dies furchtbare, minutenlange Krachen und Bersten, als der Blitz dicht neben unserem Hause in die Pappel einschlug! Da warfst Du Dich zitternd auf meine Brust und presstest Dich so fest an mich… noch fühl ich Deine mageren Händchen um meinen Körper geschlungen und Deine zarten Beine sich mit kranker Hitze in mich hineinglühen. Damals hattest Du auch Fieber. Du hattest immer Fieber. Weißt Du es jetzt?
211Sie ließ den Kopf tief herabsinken. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Es war verdeckt von der breiten Krampe ihres schwarzen Sommerhutes.
212— Nun trink doch! sagte er mit geheimnisvollem Lächeln. Dein Wohl!
213Sie stieß schweigend mit ihrem Glase an.
214— He, he, Du trinkst ganz ausgezeichnet. Das hab’ ich Dir beigebracht. Du fürchtetest, ich würde Dich verachten, wenn Du nicht tränkest. Gott, wie Du mich geliebt haben musst! Alles tatst Du nur um meinetwillen. Und jetzt, jetzt?… Agaj! jetzt?
215Er wartete gespannt auf die Antwort.
216 217 218— Bist Du schon mit dem Furchtbaren zu Ende?
219Ihre Stimme klang höhnisch und wegwerfend.
220 221— Du scheinst Dich schnell gefasst zu haben. He, he: es kam so unerwartet Du warst ja Anfangs ganz krank vor Aufregung. Noch seh ich Deine Hände zittern und auf Deinem Gesicht glühen rote Flecken.
222Sie sah ihn wütend an. Er erwiderte ihren Blick mit zynischem Lächeln.
223— Nein Du! Ich bin gar nicht zu Ende… Ja, damals… He, he: Du hörst es so gern… Ich wachte früh auf. Ich konnte nicht schlafen. Ich löste vorsichtig Deine Arme von meinem Körper. Du warst auf meiner Brust eingeschlafen. Ich stand auf und fing an mich anzukleiden. Und da sah ich Dich plötzlich. Ja, plötzlich: ich habe Dich nie vorher gesehen… gesehen! verstehst Du? Es war wohl heiß, denn Du hattest die Decke mit den Füßen abgeworfen und lagst nun nackt.
224 225Dein Hemd war bis zum Halse aufgerollt, schliefst Du da eigentlich? Er flüsterte ihr die Frage leise ins Ohr.
226Sie sah ihn an. Ihr Gesicht zuckte. Ihre Augen waren übergossen von einem heißen, fiebrigen Glanz.
227Sie tauchte langsam, gierig tastend ihren Blick in seine Seele.
228 229— Hörst Du nicht, was ich sage? Dein Hemd war bis zum Halse aufgerollt, und Du lagst ganz nackt. Und ich bin sicher, dass Du nicht schliefst, ich bin sicher, dass unter den langen Wimpern Dein Blick in mein Blut kroch… Sei doch ein wenig empört! Bist Du es nicht?
230Sie ließ wieder den Kopf sinken.
231 232— Ich starrte Dich an. Ich konnte mich von Deinem Körper nicht losreißen. Mein Herz klopfte, dass ich nicht stehen konnte.
233Sie sah ihn flüchtig an mit einem verzerrten fiebrigen Lachen.
234— Und dann? fragte sie heiser.
235— Dann — dann… seine Stimme zitterte — dann sank ich an Dich und küsste Dich…
236— Auf den Mund? Sie konnte kaum die Worte ausstoßen.
237— Nein… Er fing wieder an zu flüstern. Du weißt es ja, Du schliefst nicht — Du warst wach, Dein ganzer Körper zuckte heftig auf…
238Ihr Gesicht verschwand wieder.
239Als sie aufblickte, war ihr Gesicht wie verzückt von Qual und ihre Augen funkelten in einem abgründigen grausamen Schmerz.
240— Sag mehr! Sag doch mehr! stieß sie plötzlich hervor.
241Es fing an, in ihm zu fiebern. Das Blut schoss ihm jäh ins Gehirn.
242— Ich habe Dich dann vergessen. Ich habe Dich beinahe zwölf Jahre nicht gesehen. Ich habe mich verheiratet. Und da sah ich nicht mehr das Weib in Dir, nur eine unendlich teure Schwester… Ja doch! einmal im vorigen Jahre, als wir beide allein waren und so viel getrunken hatten! Da wurdest Du plötzlich ganz ungewöhnlich boshaft, Du höhntest mich, machtest pikante Anspielungen auf meine Heirat und plötzlich warfst Du Dich über mich her und bissest mich in die Lippen, dass sie bluteten… Da fing es an, mich heiß zu überlaufen.
243— Hab ich Dich gebissen? Sie lachte hässlich auf.
244— Und dann, als Du bei uns zum Besuche warst und mir einmal früh Morgens Kaffee ans Bett brachtest…
245 246— Du bist wohl verrückt geworden? Du willst Dir doch nicht einbilden, dass ich Dich als Weib liebe?
247 248— Eben hast Du Dich verraten. Du hast mich nie als Schwester geliebt. Du zittertest immer nach mir, so wie ich jetzt nach Dir zittre. He, he: Weißt Du noch? Einmal, als Du Deinen Geburtstag hattest und so viele Kinder zu uns kamen? Wir spielten Versteck. Immer bist Du zu mir in die dunkelsten Ecken geschlichen und drücktest Dich heiß an mich. Sieh mich doch an, lass Dir doch in die Augen sehen… Weißt Du noch, als wir beide so heiß wurden und uns beinahe erwürgt hätten in einer Lust, die sonst Kinder nicht zu haben pflegen? He, he… Da wurd' ich Mann…
249Er schwieg plötzlich, es kam ihm vor, als hätte er zu viel gesagt.
250 251— Du willst wohl einen Roman schreiben? Irgend eine perverse Geschichte von Geschwisterliebe, wie? He, he, he… Damit düpierst Du mich nicht…
252— Ich will Dich ja gar nicht düpieren. Du glaubst mir also nicht? Du traust mir nicht? Hör' Agaj, hörst Du nicht in meiner Stimme diesen entsetzlichen Ernst? Warum wehrst Du Dich? Warum willst Du nicht zugeben, dass Du mich liebst? Hast Du mir nicht gestern gesagt, dass Du beinah verrückt geworden bist, als ich im vorigen Jahre nach dem Ausland zurückkehrte? Und glaubst Du, ich weiß es nicht, dass Du der Mutter das Geld gestohlen hast, um es mir zuzuschicken, als ich in Not war?… Tut das eine Schwester? Warum? Warum willst Du es verleugnen, dass Du mich liebst?
253— Ich liebe Dich, wie man einen Bruder liebt, nicht mehr, sagte sie abweisend.
254— Ha, ha, ha, liebt man so einen Bruder? Das musst Du einem Kriminalpsychologen erzählen… Warum wurdest Du jetzt so leichenblass, warum zittern Deine Hände? Und Du trinkst viel, damit es Dir nur nicht bewusst wird, was ich sage. Quäl' mich doch nicht…
255Er wurde ernst, sein Körper bebte.
256— Qual' mich nicht! Ich bin so unerhört glücklich über Deine Liebe… Ich — ich… seine Stimme senkte sich bis zum kaum hörbaren Flüstern… Du, Agaj, es ist etwas Sonderbares in mir vorgegangen…
257— Ich liebe Dich! keuchte er plötzlich und seine Stimme brach.
258Es entstand eine lange Pause. Das Schweigen dauerte ungewöhnlich lange.
259— Hast Du es nun begriffen? flüsterte er leise.
260 261— Gestern brach es durch in meiner Seele… Du warst bei mir in der Nacht… Du bist nicht mehr meine Schwester…
262Sie sah ihn entsetzt an. Um ihre Mundwinkel zuckte die Qual. Sie gruben sich mit den Augen in einander, ihre Blicke verflochten sich unlösbar.
263— Das ist furchtbar! sagte sie. Eine kranke Angst flackerte fiebernd in ihrem Gesicht.
264— Ja, es ist furchtbar, wiederholte er wie abwesend. Wieder ein langes Schweigen.
265 266 267Er hatte sie niemals flehen gehört.
268— Nein, Agaj, ich kann nicht weg von Dir.
269— Aber was willst Du denn von mir? schrie sie plötzlich rasend auf.
270— Nichts, nichts… Natürlich nichts…
271 272— Gestern noch gab es für mich etwas, das Blutschande hieß, he, he. .. Inzest glaub' ich. Ich kam in die wüsteste Verzweiflung, als ich entdeckte, dass das Weib, mit dem ich unerhörte Orgien feierte, meine eigne Schwester war. Heute hab’ ich die Schwester verloren. Heute seh' ich Agaj, das Weib, das fremde Weib, das mir über jedes Weib in der Welt geht, schon deswegen, weil es Blut von meinem eignen ist, ein physisches Stück von mir.
273 274— Du, Agaj, Du fürchtest den Inzest?
275— Ich fürchte ihn gar nicht. Sie lachte höhnisch.
276— Aber? aber? Er sah sie mit zitternder Angst an, als sollte jetzt über sein Leben entschieden werden.
277Sie blickte ihm starr mit einer grausamen Kälte in die Augen.
278— Aber? Du fragst: aber? Es gibt kein Aber, weil Du für mich gar nicht als Mann existierst. Du bist einfach mein Bruder.
279— Du lügst! Du lügst! Warum quälst Du mich mit Deinen Lügen? Zerstöre doch nicht das Heiligste in mir, das, wovon ich lebe, was den ganzen Inhalt meiner Seele ausmacht.
280— Du hast Deine Frau vergessen, Du hast Fieber, Deine Hände glühen, und Deine Augen saugen sich giftig wie Tollkraut in mein Blut… Ich will Dich nicht sehen. Du zerstörst meine Seele, Du…
281Sie kam plötzlich zur Besinnung und schnellte höhnisch auf.
282— Lächerlich: Grenzenlos lächerlich! — sie raste — Du hast das schönste, das herrlichste Weib zur Frau, nie hab' ich ein so herrliches Weib gesehen… und — und Du hast an ihr nicht genug und läufst einem andren Weibe nach, das noch obendrein Deine Schwester ist.
283— Oh, oh, Du läufst mir ebensoviel nach, wie ich Dir… He, he… Nur feig bist Du, feig. Du wagst es nicht zu gestehen. Aber, als ich Dir gestern sagte, dass ich vielleicht heute wegfahren werde — glaubst Du, dass ich die Qual nicht gesehen habe und die Mühe, die Du hattest, um sie zu verbergen? Ich verehre mein Weib, aber ich liebe Dich. Versteh' es doch: Dich, Dich lieb' ich. Du hast Dich seit Deiner Kindheit nach diesem Worte, diesem: ich liebe Dich! gesehnt. Du hast gezittert, dass ich es Dir nur sage. Du wolltest es von mir erzwingen und jetzt, jetzt, da ich es endlich gesagt habe, willst Du mich so brutal zurückstoßen? Du glaubst vielleicht nicht, dass es mir Ernst ist, weil es so jäh und unerwartet gekommen ist. In einer Sekunde von Qual… Aber ich lebe jetzt nur in diesem Gefühl, mein Gehirn wühlt sich mit fiebernder Wollust in die Zeit, als Du Deine Gier noch nicht zu verbergen verstandest. Plötzlich ist meine Seele aufgebrochen, ich erinnere mich an jedes Wort, das Du vor zwölf Jahren gesagt hast, ich erinnere mich an die tausend Dinge, tausend Kleinigkeiten, tausend Blicke und Bewegungsmomente aus jener Zeit, ich erinnere mich an alles, das mir gestern noch vergessen war…
284Er taumelte, verlor plötzlich den Gedankenfaden und sann eine Weile nach.
285— Nein, nein, ich liebe Dich nicht seit gestern, ich liebe Dich seit langem. Das war nur zufällig, dass es mir gestern grade zum Bewusstsein kam. Du hast mir immer gefehlt. Sieh: ich war ja glücklich mit meinem Weib, aber immer, immer sehnt' ich mich nach Dir.
286Die Qual floss in ihm über, es würgte ihn, kalte Schauer strömten ihm über den Rücken, er schüttelte sich in Fieberfrost.
287— Ich verehrte, ich liebte bis zum Wahnsinn Deine Liebe. Ich zitterte, um nur einen Brief von Dir zu bekommen. Und wenn ich Ihn bekommen hatte, las ich ihn und las unaufhörlich. Ich las das alles, was Du nicht schreiben konntest, was aber in jedem Worte zitterte, ich ging wochenlang mit Deinen Briefen umher damals schon, als ich noch nicht ahnte, dass Du mir das werden solltest, was Du mir heute bist. O, ich liebe jedes Wort von Dir, ich liebe Deine grausame Seele, die nicht genug Schmerzen finden kann, um sich darin zu vergraben, ich liebe Dein kleines, braunes Gesichtchen mit den abgründigen Augen, ich liebe die Seide, die Deinen Körper umschließt, ich liebe die Formen dieses Körpers, ich fühle ihn wie er sich an mich presst, mich umschlingt, ich sehe Deine kleinen Brüste, ich fühle sie sich in meinen Körper hineinglühen. Ich… ich…
288Er fing an zu stottern. Es raste in ihm, sein Gehirn schwoll an zu einer riesigen Aderbeule. Dann begann er wieder zu sprechen, sinnlos, ohne Zusammenhang, die Worte kamen wie von selbst, glühend, krank, wie herausgeschleudert aus einem Vulkan.
289Sie hielt seine Hand in stummem Krampf umschlossen, sie vergrub schmerzhaft ihre Finger in seine Haut. Sie fasste ihn ums Handgelenk und presste wieder seine Finger: es war wie ein irres Gejauchze in dieser taumelnden, flackernden Hand.
290Da wurde sie plötzlich grenzenlos unruhig. Sie hörte nichts mehr, sie sah nichts mehr. Sie faltete die Hände, dass alle Gelenke knackten, dann ballte sie die Fäuste und spreizte wieder die Finger.
291— O Gott! stöhnte sie keuchend.
292 293— Sag jetzt kein Wort mehr, schrie sie auf, kein Wort! Ich gehe — ich gehe sofort, wenn Du nur noch ein Wort sagst.
294 295— Nein, nein, ich will nichts mehr sagen. Ich kann auch nicht mehr, murmelte er müde.
296Ein Schweigen, ein tötendes Schweigen, das langsam einen Nerv nach dem ändern zersägte.
297— Komm! sagte sie endlich und stand auf.
298 299— Ist es Dir nicht gleichgültig, wohin Du mit mir gehst? Sie lachte ihn höhnisch an. Du willst ja nur mit mir zusammen sein.
300— Aber nur mit Dir! Nur mit Dir allein! Ich habe Ekel vor Menschen, ich mag keinen Menschen sehen. Ich spucke auf die Menschen! Ich kann die menschliche Fratze nicht ausstehen.
301— Komm! sagte sie mit hartem Befehl.
302Er sah sie erstaunt an, blieb eine Weile sitzen, starrte sie unaufhörlich an, dann erhob er sich und ging.
303— Es hat mir noch kein Mensch etwas befohlen, sagte er leise auf dem Wege. Kein Mensch. Ich wusste bis jetzt nicht, was gehorchen heißt, bis Du jetzt plötzlich sagtest: Komm! Und ich gehorche…
304 305— Und Du willst mir vorlügen, dass Du mich nur als Schwester liebst? Du liebst mich ja nur als Weib! Du hast ja nur gewartet auf das Wort: Ich liebe Dich! und gleich bist Du wie verwandelt. He, he: Du weißt jetzt, dass Du mir befehlen kannst, was Du früher nicht wagtest. Woher diese Instinkte, die nur ein liebendes Weib hat, woher dies feine Ohr für „ich liebe Dich“ und seine Konsequenzen? Warum lügst Du? Du sehnst Dich nach mir, Du hast dieselbe rasende Gier, Du… Du…
306Sie blieb stehen und sah ihn wütend an.
307— Wenn Du noch ein Wort sagst, geh' ich weg.
308 309— Versuch' es doch! Geh! Geh! Dir ist es ebenso unmöglich wegzugehen, wie mir… Oh, wie Du schön bist! Wie Dein Gesicht flackert!… He, he, he… Wo hab' ich nur meine Schwester verloren?
310Er schob seinen Arm unter ihren und presste ihn krampfhaft an sich.
311— Ich muss Dich halten. Ich bin nicht sicher, ob Du am Ende doch nicht weggehst. Du bist grausam gegen Dich. Deine Seele hat wirklich nicht Qual genug, noch lange nicht genug. Du würdest in der Hölle glücklich werden. Und jetzt, jetzt quälst Du mich. Du möchtest mich auf die Folter spannen, damit Dir nur das Herz an meinen Qualen berstet. Oh je m'y connais: das ist die höchste Wollust, aber meine Nerven sind zu schwach dazu…
312 313Sie kamen in eine Gesellschaft. Plötzlich — Mit einem Mal. Eine lange Zwischenzeit ging wohl seinem Gehirn verloren. Es wurde ihm nicht klar, wie er so plötzlich hergekommen war.
314Im Nu wurde er nüchtern und kalt.
315Er sprach sehr vernünftig mit einem Herrn, der eine sammetne Weste und oben auf dem Vorhemd einen Diamanten hatte. Bei Tisch bekam er zur Nachbarin ein junges, frisches Mädchen, das eine sonderbare Freude am Lachen hatte.
316Plötzlich wieder ein Lichtpunkt: Er begegnete Agaj’s Augen.
317Er las in ihrer Seele, wie ein Somnambule. Eine Sehnsucht sah er in den Augen, einen kauernden, zusammengekrampften Schmerz: ihre ganze Seele gerann in diesem langen, gierig schmerzlichen Blick.
318Alles um ihn herum verschwamm zu einem wirren Gemenge von Messerklirren, Lachen, Sprechen, dann hörte er ein unangenehmes Geräusch wie wenn Stühle gerückt wurden. Er sah die finstre Masse von menschlichen Leibern, die vor seinen Augen flirrte, sich hochheben, mechanisch stand er auf.
319Plötzlich erlangte er das Bewusstsein.
320Er sah die Menschen in den Salon treten. Er versuchte den Andren zu folgen, aber er blieb wie angewurzelt stehen. Etwas zerrte ihn zurück. Er sah sich um. Ihm gegenüber stand ein dunkles Nebenzimmer offen. Er wurde von einer fremden Hand dahin gestoßen. Es kam ihm vor als taumelte er hinein: seine Beine gingen wie von selbst, er widerstrebte nicht mehr: in dem dunklen Zimmer besann er sich auf sich selbst.
321Eine unheimliche Angst krallte sich in seiner Seele fest.
322Das ist ihr Wille! Sie hat ihn mir auferlegt! Ihr fürchterlicher, körperlicher Wille. Der Gedanke, der Macht geworden ist, eine riesige Macht mit Blut gefüllt, mit langen, gespenstigen Händen…
323Er lallte es vor sich hin, um sich zu beruhigen.
324Er saß sehr lange in dumpfer, irrer Schwüle. Plötzlich schrak er auf: sie saß bei ihm.
325 326 327Sie fasste seine Hand. Es goss sich über ihn wie ein kochender Strom. Sein Körper fing an zu zucken. In seinem Gehirne klopften kurze, schmerzhafte Schläge.
328Ihre Hände verflochten sich krampfhaft. Es warf sie auf einander.
329Sie versanken, sie vergingen in dieser stummen Brunst ihres Blutes. Kopfüber sinnlos stürzten sie sich in den grausigen Wirbel der geschlechtlichen Ekstase.
330Ab sie sich loslosten, hielten sich noch ihre Hände umklammert, als wären sie selbstständige Organe geworden.
331— Ich kann Dir nichts mehr geben, fühlte er sie sprechen, aber er konnte sich nicht besinnen, ob er einen Laut gehört hatte.
332— Deinen Leib! Deinen Leib! stammelte er.
333 334 335 336Er blieb einen Augenblick bewusstlos. Sie war plötzlich verschwunden.
337Seine Seele löste sich qualvoll in wachsender Angst.
338War sie es selbst? War es nur eine Vision?
339— Sie sind wohl krank? fragte ihn der Herr mit der sammetnen Weste, als er in den Salon trat.
340Er hörte kaum hin. Seine Augen flogen suchend umher. Endlich entdeckte er sie. Sie saß da regungslos mit einem kalten Sphinxgesicht und sah ihn ruhig an.
341 342— Bist Du da drin bei mir gewesen? fragte er zitternd.
343— Bist Du nicht sicher? sie lächelte seltsam.
344— Ich habe Angst vor Dir, Du — Du Satan! Er zitterte immer heftiger.
345— Warum denn? sie drehte sich gleichgültig um und fing an mit einem Herrn zu sprechen.
346Seine Seele kroch zusammen. War dies das Weib, das sich vor ein paar Minuten mit dieser uferlosen Leidenschaft an ihn gepresst hatte?
347— Ich fahre morgen nach Hause! flüsterte er ihr wütend zu.
348 349— Ja, es ist die höchste Zeit, sagte sie kalt. Noch zwei Tage und Du wirst verrückt.
350— Du bist brutal! Er schrie fast.
351Sie drehte sich wieder um und sprach weiter mit dem fremden Herrn.
352Er wurde plötzlich sehr ruhig. Als wäre alles in ihm geborsten. Er verschwand unauffällig und trat ins Entrée.
353— Du fährst nicht! Er sah sie zittern und ihre Augen fraßen glühend an ihm. Du fährst nicht! Ich werde Dir die Seele aus dem Leibe reißen, wenn Du fährst.
354Er hörte ihre Zähne wie in Schüttelfrost an einander schlagen.
355 356— Ich habe nichts mehr mit Dir zu tun, sagte er langsam und kalt.
357— Du fährst nicht! keuchte sie.
358— Ich fahre! Ich will nicht mehr meine Seele prostituieren. Ich muss Dich in meinem Herzen vor diesem herzlosen Weihe da — er zeigte verächtlich mit dem Finger auf sie — retten… die Trümmer retten.
359 360 361— Du bist morgen Nachmittag dort, wo Du heute mit mir warst… Bist Du nicht da, so, so…
362 363Sie trat dicht an ihn heran. Sie sahen sich lange in die Augen.
364Ohne ein Wort gingen sie auseinander.
*
365 366Er legte die Stirn in tiefe Falten und lächelte. Er lächelte immer. Ein blödes, irres Lächeln war wie versteinert um seine Lippen.
367Sein Fieber wuchs und schwoll. Lange feine Nadelstiche fuhren ihm durch den Hals. Gedanken, schmerzhaft, wirbelten wie glühende Metallspähne durch seinen Kopf.
368Fünf Minuten noch wollte er warten, nur fünf Minuten.
369Ein stiller, irrer Triumph flammte in seiner Seele auf.
370— Oh, wenn sie nicht käme, er würde sie dann los werden.
371 372Da zuckte er auf: ein bekannter Mensch! Er druckte sich tief in das Sofa hinein, faßte die Zeitung und verdeckte mit ihr sein Gesicht.
373Aber der Andere hatte ihn schon gesehen. Er kam ruhig an ihn heran und setzte sich neben ihn.
374— Ihre Schwester wird wohl bald kommen, sagte er, ich habe sie heute getroffen, sie sagte mir, sie würde herkommen.
375 376 377Er biss vor Wut die Zähne aneinander. Griff wieder nach der Zeitung und fing an zu lesen. Aber er verstand kein Wort. Eine dumpfe kauernde Ohnmacht legte sich mit dicker Kruste um sein Herz. Er fühlte es sich an der Rinde wundschürfen.
378So saßen sie wohl eine Stunde.
379 380— Warten Sie nur auf meine Schwester. Ich muss jetzt gehen.
381 382Er trat taumelnd auf die Straße.
383Er konnte kaum gehen. Die wilde Wut gegen das Weib machte sein Blut stocken. Er war nahe am Weinen. Seine Kräfte verließen ihn zusehends. Es würgte ihn, als schluckte er brandigen Qualm.
384Er setzte langsam einen Fuß vor den andern. Jeder Schritt tat ihm weh im Gehirn: würde er schneller gehen, müssten alle Adern reißen.
385Das Bewusstsein fing an, ihn zu verlassen.
386Er wiederholte sinnlos einzelne Sätze, faselte vor sich hin, lachte still und rieb sich die Hände.
387Und wieder flammte der stille Triumph in ihm auf: er brauchte sie nicht zu sehen. Er war befreit, erlöst von seinem Vampir.
388 389Da blieb er plötzlich stehen: sein Herz krampfte sich heftig zusammen: in der Ferne sah er ein schwarzes, seidenes Kleid knistern… Nein! es war nicht Agaj.
390Die Unruhe bäumte sich in ihm hoch auf. Unruhe und würgende Sehnsucht.
391Nein, nein — er musste nach Hause gehen. Sich ins Bett legen. Er war ja todkrank.
392Die Sonne schien ihm stechend in die Augen. Er fühlte die scharfen Strahlenstöße sich gellend ihm in die Nerven keilen. Es schwindelte ihn: er setzte sich auf eine Bank.
393Ekelhaft, mitten auf der Straße ohnmächtig zu werden! fuhr es ihm plötzlich durchs Gehirn. Die Vorstellung von einem Auflauf, einer Tragbahre rüttelte ihn mit einem Male auf.
394Er strengte sich an, die Menschen, die wie Schatten an ihm vorüberglitten, zu sehen, deutlich zu sehen, sie voneinander zu unterscheiden.
395Da sah er plötzlich sie. Es kam ihm vor, als hätte er sie schon früher einmal vor seiner Bank auf– und abgehen gesehen.
396Sie ging ruhig, grüßte freundlich nach allen Seiten und hatte rote Handschuhe an. Lange scharlachrote Handschuhe.
397 398 399Er nahm sie schweigend unter den Arm und führte sie in ein abgelegenes menschenleeres Café.
400 401— Wenn Du noch einmal — seine Stimme erstickte in Wut — wenn Du noch einmal mir Menschen auf den Hals schickst, werd' ich Dich, werd' ich…
402 403 404Er beruhigte sich plötzlich. Seine Macht schmolz wie Glas im Feuer. Er lächelte wieder. Da schrak es wieder in ihm auf. Eine Erinnerung fühlte er lauernd kauern, und plötzlich jäh emporschnellen:
405— Hast Du mir nicht gestern gesagt, dass ich Dich heute erwarten sollte?
406 407— Lüg' nicht, Agaj, nicht jetzt, um Gotteswillen. Ich habe eine entsetzliche Angst um mein Gehirn… Hast Du, — hast Du es wirklich nicht gesagt?
408 409— Sag' es, sag' — ich weiß ja nicht sicher. Alles verfließt in meiner Seele. Ich konnte nicht begreifen, warum ich dort auf Dich wartete.
410 411 412 413— Warum hast Du mich denn bestellt, wenn Du nicht kommen wolltest?
414— Ich will nicht mehr mit Dir allein sein, sagte sie kalt.
415 416 417 418— Ja, dann will ich nicht mehr mit Dir zusammen sein, Agaj. Ich kann nicht mit Dir zusammen sein, wenn Menschen dabei sind. Ich habe Ekel vor Menschen. Ich kann keinen Menschen außer Dir sehen. Nein, Agaj, ich will es nicht.
419Sie fasste ihn an der Hand. Er setzte sich wieder.
420 421— Kannst Du denn nicht zur Vernunft kommen? Verstehst Du nicht, dass alles aussichtslos ist, verstehst Du's nicht?
422 423— Weil ich Deine Schwester bin.
424— Du lügst. Daran denkst Du nicht einen Augenblick. Du liebst die Qual, Du kannst Dich nicht genug an Deiner und meiner Qual sättigen…
425 426— Hör' Agaj, ist es… ja — nicht wahr? Du liebst meine Frau sehr.
427 428 429 430 431 432 433— Ich will bei Dir bleiben, sie sprach flehend. Ich will immer mit Dir zusammen sein, aber nicht allein. Das dürfen wir nicht. Ich bitte Dich darum.
434 435— Vor mir selbst. Und Du liebst mich doch. Kannst Du es nicht meinetwegen tun?
436 437— Du sollst nicht wollen, mit mir allein zu sein, — und… und, sie senkte den Kopf — Du sollst mich nicht mehr berühren. Ich habe einen unaussprechlichen Ekel davor, sagte sie hart.
438— Hast Du Ekel vor meiner Berührung?
439 440Über seinen Körper rieselte es wie von einer glühenden, zu Perlen zerstäubten Metallmasse. Seine Seele schrumpfte wund zusammen. Er fühlte Scham und Ekel vor sich selbst. Er hatte das Weib berührt, das Ekel vor ihm — vor ihm empfand.
441Er kam zu sich. Eine kalte, trockene Klarheit fühlte er in seinem Kopfe, wie Wetterleuchten zuckte wieder der stille Triumph der blutenden befreiten Seele auf.
442— Ich danke Dir, dass Du jetzt endlich ehrlich bist… Du hast Recht… Nie werd' ich mehr darüber sprechen, noch Dich berühren.
443Er sah nur die Krampe ihres Hutes. Ihr Kopf war tief gesenkt und die Hände in den roten Handschuhen weit über den Tisch gestreckt.
444— Vielleicht sollen wir den Menschen aufsuchen, den Du mir zur Unterhaltung geschickt hast?
445 446— Dann wollen wir andere Menschen aufsuchen.
447 448Lange Pause. Er war ganz ruhig. Sein Fieber war mit einem Mal verschwunden. Er war wie von einem Bann erlöst.
449— Nun, sieh doch auf! sagte er freundlich nach einem langen Schweigen. Jetzt können wir ruhig und vernünftig mit einander sprechen. Jetzt hast Du erreicht, was Du wolltest. Ja, Du kennst mich, Du weißt, wie schamhaft meine Seele ist. Meinetwegen kannst Du jetzt tausend Menschen aufsuchen. Ich habe auch kein Bedürfnis mehr, mit Dir allein zu sein. Übrigens möcht' ich Dir den verfluchten Hut am liebsten vorn Kopfe reißen. Diese große Krampe ist sehr bequem… Ha, ha, ha. .. Nun, Agaj, liebe Schwester, kannst Du mit Deinem Bruder nicht vernünftig sprechen?
450 451Er glaubte Tränen in ihren Augen zu sehen.
452 453Die Tränen liefen über ihre Backen herab.
454— Du weinst? fragte er kalt und ruhig.
455 456— Du weinst ja, ich sehe es doch! Und ich sitze und zerbreche mir den Kopf, warum Du eigentlich weinst. Ich glaube nicht an Deine Tränen. Deine Seele ist verlogen. Sie sucht nur krampfhaft nach neuen Martern… Ha, ha, vielleicht hast Du die Fähigkeit, zu weinen, wann Du willst? Willst Du mich mit Deinen Tränen kirren?
457Sie sah ihn an: ein Blick, der in würgendem Krampfe schrie. Aber nur einen Moment, im Nu sah er einen wilden Hass aus ihren Augen stechen, zu einem bohrenden, saugenden Licht sich weiten und heiße Brände in seine Seele werfen.
458Es dauerte eine Ewigkeit. Dann zersprang gellend das Licht in ihren Augen, ihr Gesicht wurde hart, sie sah vor sich hin, dann starrte sie ihn wieder an mit einem glasigen Ausdruck, und plötzlich schoss der dumpfe Hass wieder auf, sie warf sich ins Sofa zurück.
459— Nun! Gott sei Dank ist Dein Fieber vorüber, sagte sie mit lachendem Hohn, jetzt kannst Du zu Deiner Frau zurückkehren und ihr die Erlebnisse mit Deiner Schwester erzählen.
460 461— Hast Du oft dieses Fieber? höhnte sie. Ich meine: betrügst Du oft Deine Frau unter dem Schutze dieses Fiebers?
462— Sehr oft. Hier zum Beispiel habe ich ein Mädchen, ein Kind noch, bei dem ich jede Nacht schlafe.
463Sie schrie leise auf. Er sah sie mit höhnischer Wut an.
464— Hat es sehr weh getan? grinste er boshaft.
465— Du lügst! schrie sie unterdrückt auf.
466— Nein! Wozu sollt' ich lügen?
467— So, so… Warum bettelst Du denn bei mir?
468— Ich bettle nicht. Hab’ ich gebettelt? Davon weiß ich nichts… Und, und, ich bitte Dich um Verzeihung für alles, was vorgefallen ist. Ich empfinde mich so grenzenlos lächerlich. Eigentlich solltest Du mich nicht so schmerzhaft beschämen. Nun, ich hoffe, dass Deine Seele jetzt vor Freude jauchzt…
469Ihre Hände bewegten sich nervös.
470 471— Wundervolle Handschuhe hast Du. Das sieht sehr pervers aus. Das ist à la Rops. Du hast überhaupt die Gestalt, die Rops immer zeichnet. Und auch die gierige, freche Unschuld… Ha, ha, ha… und Du verstehst Dich zu kleiden! Das Seidenkleid lieb ich sehr. Es ist ein solch wollüstiges Gefühl in den Fingerspitzen, ja, ja — Deine Seide stäubt mir Wollust in die Adern… Nun, Du scheinst gar nicht auf mich zu hören… Ich habe Dir auch nichts Interessantes mehr zu erzählen. Das, was an unserem Verhältnis interessant und pikant war, was nach Satanismus und Inzest schmeckte, ist ja nun vorüber. Jetzt können wir zu den zweifelhaften Freuden des Werktags zurückkehren.
472Sie sah ihn plötzlich lange und durchdringend an. Ihre Augen funkelten in einem seltsamen Lächeln.
473— Du hast Fieber, sagte sie langsam. Jetzt erst seh' ich, wie krank Du bist. Deine Augen sind eingefallen. Deine Augen glühen wie Kohlen, Dein Gehirn ist krank. Du kannst nicht mehr die Wirklichkeit von der Vision unterscheiden. Du siehst das Gras in meiner Seele wachsen. Und manchmal überhörst Du ganze Sätze, ist es nicht so?
474Er stutzte, dann lachte er boshaft auf.
475— Ja, ja, ich verstehe Dich. Jetzt hab’ ich natürlich Fieber, well ich anfange, vernünftig zu sprechen. Ich habe Fieber, weil ich Deine quallüsterne Phantasie nicht erhitze. Ich verstehe Dich. Du hast Sehnsucht nach den irrsinnigen Worten meiner Liebe.
476 477 478— Ja? Ja? Das sagst Du so frech, nachdem Du meine Seele zertreten hast? Sagtest Du nicht vor ein paar Minuten, dass Du Ekel vor meiner Berührung hast? Nein, nein — meine Seele ist spröde, ich will mich nicht prostituieren vor Dir.
479Er kam plötzlich in eine Ekstase von Raserei. Sein Gesicht fühlte er zucken und das Fieber befiel ihn von Neuem.
480 481 482 483Er suchte, seine Ruhe zu bewahren. Sie bettelte mit den Augen.
484Er trank schnell und stützte den Kopf in die Hände. Er hatte sie plötzlich beinah' vergessen. Sein Fieber ließ nach. Nur ein Schmerz, ein brandroter Schmerz glühte in seinem Hirn.
485Da fühlte er von Neuem ihr Locken. Er merkte, dass sie ihm langsam näherrückte — noch näher und plötzlich presste sie heftig ihr Bein an das seine.
486Wieder empfand er die kurzen, schmerzhaften Zuckungen in seinem Kopf, wie von heftigen Hammerschlägen.
487Sie saßen regungslos. Sie über den Tisch gebeugt, schwer und heiß atmend.
488— Ich habe gelogen! flüsterte sie leise, trank das Glas leer, füllte es von Neuem, leerte es wieder.
489— Trink doch! Ihre Stimme zitterte.
490Es schwindelte ihm. Er hatte plötzlich alles vergessen. Er fühlte nur die körperliche Wärme ihrer Glieder sich um ihn legen, er fühlte sie sich an seinen Körper schmiegen, heiß, sinnlos, zuckend…
491Sein Gehirn taumelte. Er fing an zu sprechen, leise, flüsternd. Er bebte am ganzen Körper. Seine Hände irrten unstet.
492Ihre bettelnde Hand umkrallte die seine, zerwühlte fiebrig seine Finger und kratzte sie wund.
493Da weiteten sich ihre Augen und sie sah ihn an mit einem Blick: ihre Seele verblutete in Angst und Verzweiflungsschmerz.
494 495 496Das Gespräch stockte. Sie sprachen gleichgültig über gleichgültige Sachen, von Zeit zu Zeit schwiegen sie lange, und dann kam es wieder von Neuem, ohne dass sie wussten, wer zuerst angefangen hatte.
497— Und erinnerst Du Dich, Agaj, einmal als wir badeten? Ich habe Dir beim Auskleiden geholfen. Du hast Dich plötzlich gesträubt, und wurdest so furchtbar rot… He, he: wir waren eigentlich keine Kinder mehr. Und mit einem Ruck empfand ich eine so grenzenlose Liebe zu Dir… erinnerst Du Dich? Wir warfen uns in den Sand und pressten uns so wild aneinander, dass wir beide vor Schmerz aufschrien. Dann nahm ich Dich auf meine Arme und trug Dich ins Wasser. Du warst so übermütig, wie es nur ein Weib sein kann, das plötzlich fühlt, dass es geliebt wird. Ich sollte Dich schwimmen lehren, aber Du sankst immer unter… O Gott, jetzt, jetzt seh ich Dich wieder als die herrliche Agaj von zwölf Jahren, die mich so sinnlos geliebt hat. Jetzt siehst Du mich wieder so gut, so innig an, wie Du mich früher immer angesehen hast. Du höhnst nicht mehr, Du bist nicht mehr boshaft, und jetzt bin ich wieder Dein Hund, ich bin wieder Deine Sache, Du kannst mit mir machen, was Du willst, Du kannst mir die Seele aus dem Leibe reißen, und ich werde Dir noch dankbar sein dafür, weil Du, Du es bist…
498— Quäl’ mich doch nicht, quäl' mich nicht so unerhört! flehte sie plötzlich.
499Er lehnte sich zurück. Sein Kopf brannte. Seine Zunge war trocken und ein dicker, schleimiger Speichel sammelte sich in seinem Mund.
500— Das ist furchtbar! hörte er sie leise sagen.
501Der Abend kam, es wurde allmählich dunkel.
502Sie saßen dicht aneinander gekauert.
503 504 505— Siebst Du den Mond durch die Zweige bluten?
506 507 508Sie pressten sich noch enger an einander, noch fester, sie umklammerten sich, und in ihrem Schweigen, in ihrer Umarmung war Schmerz.
509 510— Jetzt geh ich nach Hause, sagte sie hart.
511 512— Wenn Du jetzt gehst, jetzt — jetzt… dann… dann… wirst Du mich nicht mehr sehen.
513Eine entsetzliche Angst zitterte in seiner Stimme.
514— Agaj! Wenn Du nur eine Spur von Liehe hast, so geh nicht jetzt, ich werde wahnsinnig…
515— Wir haben wieder Deine Frau vergessen, lachte sie hart.
516— Machst Du mir einen Vorwurf aus meiner Frau? Ich werde sie nie mehr sehen, wenn Du es willst, ich werde sie vergessen, wenn Du es befiehlst…
517— Gott, wie krank Du bist! höhnte sie.
518— Ich bin nicht krank. Ich liebe Dich. Ich — ich… Du Agaj verlass mich nicht, Du wirst es bereuen, es wird schlimm mit mir werden.
519 520— Nun fängst Du an, sentimental zu werden. Sie lachte heiser auf.
521In einem Nu kroch seine Seele zusammen. Als erstarrte alles in ihm zu Eis.
522Er sah sie lange sprachlos an, dann setzte er sich wieder.
523Sie betrachtete ihn mit einer grausamen Neugierde.
524 525— Kann ich Dich begleiten, oder willst Du allein nach Hause gehen? fragte er trocken.
526— Ich werde allein gehen. Geh' Du auch, Du bist ernstlich krank.
527— Was ich zu tun habe, darüber hab' ich selbst zu bestimmen. Er lächelte gehässig.
528 529— Gott, wie entsetzlich dumm Du bist! sagte sie endlich. Wie ekelhaft seid ihr alle — ihr Männer.
530— Ich habe nur Prostituierte so von Männern sprechen gehört. Sie hassen auch den Mann.
531 532 533— Ich hasse Dich! Ich will Dich nie mehr sehen.
534 535Aber als sie gehen wollte, fasste er sie an der Hand.
536— Verzeih' mir, ich bin krank.
537— Ja, ja, fahr nur schnell zu Deiner Frau zurück. Bei ihr wirst Du schon Dein Fieber verlieren.
538 539— Du willst wohl, dass ich mich zuerst von meiner Frau trenne? Dann wirst Du wohl Mut bekommen? Ha, ha, ha — Wie feig, wie feig Du bist!
540 541— Du wirst doch wohl endlich einmal die Mutter besuchen? Wie? Sie ist morgen Vormittag zu Hause.
542 543 544 545 546Plötzlich blieb nie stehen. Ihre Augen funkelten in wildem Hass.
547— Ist es wahr, dass Du hier ein Mädchen hast, ein Kind noch, wie Du sagtest?
548— Ja, ich habe mir meine, verstehst Du? meine frühere Agaj aufgesucht.
549— Das ist ja wundervoll! Oh, wie ich Dich hasse!
550— Verrate Dich doch nicht immer!
551 552— Du, Du, Agaj, warte ein wenig… Ich habe Dir etwas Interessantes zu sagen.
553Er lachte boshaft, ging auf sie zu und flüsterte ihr leise ins Ohr:
554— Weißt Du, dass Du heute Nacht bei mir in meinem Bette lagst?
555Sie stieß ihn zurück und verschwand.
556 557Nun war alles vorüber. Nun musste er nach Hause gehen. Und er konnte zu seiner Frau fahren, ohne Agaj ein Wort zu sagen.
558 559Der Tag war zu Ende. Es war schon ganz dunkel, und aus dem Dunkel mühten sich die Glutaugen des elektrischen Lichtes hervor.
560Menschen gingen in großen Scharen an ihm vorüber. Sie gingen wohl ins Theater.
561 562Der Weg ging durch einen Park. Kein Mensch. Eine starre, öde Stille.
563Er ging ganz langsam. In seinem Körper war wohl nicht ein Muskel, der ihn nicht schmerzte.
564Plötzlich bemerkte er eine schwarze Masse, die auf ihn zuzugleiten schien, er sah nicht, dass sie ging.
565 566Die schwarze Masse war einen Schritt von ihm entfernt und blieb auch stehen.
567In sinnloser Angst sah er hin.
568Aus dem Dunkel quoll leuchtend ein Gesicht hervor mit grässlich verzerrten, entstellten Mienen und qualvoll aufgerissenen, blutigen Augen.
569 570Das Gesicht schien sich zu bewegen, es öffnete den Mund, bewegte ihn, einen Schrei hörte er gellen…
571Er stürzte sich in Wahnsinn auf den Andren los.
572Aber die schwarze Masse schien zurückzuweichen und blieb wieder stehen.
573Die Augen rissen sich noch weiter auf — über das Gesicht glitt ein höhnendes Grinsen.
574Er wollte zur Seite weichen, der Andre verstellte ihm den Weg.
575Die Augen sogen sich gierig ihm ins Blut — seine Augen. Sie starrten ihn an, dann sah er den Andren langsam näher rücken, noch näher, das Gesicht berührte fast das seine: er schrie auf, schloss die Augen zu und fing an zu laufen, sein Kopf dröhnte, klopfte, barst: er stürzte hin.
576Als er zu sich kam, schleppt' er sich zu einer Bank und setzte sich hin.
577Ein Paroxysmus von wüstester Verzweiflung raste durch seinen Körper.
578Das ist Wahnsinn! zuckte es ihm durchs Gehirn.
579Er fühlte den Andren hinter seinem Rücken.
580Er stand auf und fing an zu gehen, sein Herz schlug nicht mehr. Die Verzweiflung kippte um in ein blödes, irres Brüten.
581Er glaubte Schritte zu hören Es war da. Dicht hinter ihm.
582Plötzlich verlor er das Bewusstsein. Er hörte nichts und empfand nichts mehr.
583Als er nach Hause kam, setzte er sich im Speisezimmer vor den gedeckten Tisch, stützte seinen Kopf mit beiden Armen und verfiel in einen brütenden Halbschlaf.
584 585Er sah entsetzt auf, starrte lange gedankenlos hin, endlich erkannte er das Dienstmädchen.
586— Wollen Sie etwas essen? wiederholte das Mädchen und sah ihn mitleidig an.
587Er schüttelte den Kopf und starrte sie unaufhörlich an.
588— Sie sind sehr krank, sagte sie endlich. Soll ich den Arzt holen?
589 590 591 592— Nein! Ich will nicht. Lassen Sie mich nur hier sitzen.
593 594— Ich habe Angst sagte sie nach einer Pause.
595 596 597 598— Nein, nein! Haben Sie keine Angst. Man darf keine Angst haben.
599Er faselte und betastete im Sprechen alle Gegenstände.
600— Es ist die zweite Seele, die Angst hat, und ich liebe die Menschen, die eine zweite Seele haben.
601Er fing an im Zimmer herumzugehen und sprach unaufhörlich.
602Das Mädchen sah ihn mit steigendem Entsetzen an.
603— Ihre Schwester war vor einer halben Stunde hier, rief sie in ihrer Angst.
604 605 606Das brachte ihn wieder zur Besinnung.
607Er setzte sich hin, aber von Neuem versank er in ein stumpfes Grübeln.
608 609— Ist hier Niemand außer uns beiden?
610— Nein, nein, stammelte sie und wich zurück.
611— Aber hier — hier… Sehen Sie nicht? Fühlen Sie nichts?
612Er sprang hoch wie von einem Krampf emporgeschnellt. Seine Augen waren geschlossen.
613Plötzlich riss er gewaltsam die Augen auf: er sah das Mädchen totenblass sich an einem Stuhl halten.
614Er empfand eine tiefe Scham, starrte sie lange an und versuchte, freundlich zu lächeln.
615— Ja, ja, Sie haben Recht. Ich bin krank. Vielleicht sehr krank…
616 617— Vielleicht wollen wir an meine Frau telegraphieren, dass sie sofort kommen solle?…
618Das Mädchen atmete glücklich auf.
619— Ja, ja, tun Sie das nur. Schreiben Sie nur das Telegramm. Ich werde auf die Post laufen.
620Sie lief umher und suchte nach Tinte.
621— So. Hier ist alles… schreiben Sie nur schnell. Es ist bald zehn Uhr.
622Da kam es ihm plötzlich vor, das nun alles vorüber sei. Er fühlte sich mit einem Mal so klar und so stark.
623Er war erstaunt über dies Wunder.
624— Nein, nein, es ist nicht nötig, wir wollen noch bis morgen warten. Übrigens bin ich sehr müde. Ich werde mich jetzt schlafen legen. Ich fühle, dass ich sofort einschlafe.
625 626— Wenn ich in der Nacht weggeben sollte, so ängstigen Sie sich nicht. Ich werde nämlich, wenn es schlecht geht, einen Arzt aufsuchen.
627Er trat in sein Zimmer und setzte sich auf das Sofa.
628Sein Gehirn war noch immer klar. Vielleicht war das mit dem zweiten Gesicht nur eine Fieberkrise, und jetzt würde er wieder gesund werden, dachte er.
629 630Er erinnerte sich plötzlich an den Abend, an dem sein eignes Portrait einen so furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht hatte.
631 632Diese Erinnerung rettete ihn. Alles wurde ihm klar: im Unbewussten war der Eindruck stecken geblieben, und nun drang er nach Außen unter den Einfluss des Fieberparoxysmus.
633Ein jauchzender Jubel weitete sein Gehirn. Er hatte Lust, sich auf die Knie zu werfen und Gott zu danken für die Erlösung.
634Er ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab.
635— Gott! Was ist das? schrie er plötzlich auf.
636Auf dem Schreibtisch lag ein Blatt Papier und darauf in flüchtiger, unsicherer Schrift ein Telegramm an seine Frau:
637„Komm sofort. Es geschieht etwas Furchtbares mit mir!“
638 639Eine dumpfe tierische Angst wirbelte in ihm auf: er hatte die ganze Zeit nicht ein Wort geschrieben. Er wusste genau, dass er eine Feder nicht angerührt hatte.
640Er sank hin, aber immer wieder musste er auf das entsetzliche Blatt hinstarren.
641Kein Mensch außer ihm konnte es geschrieben haben. Das war seine eigne Schrift.
642Da fingen plötzlich die Buchstaben an, sich zu rühren, sie lösten sich von dem Papier los, sie wurden lebendig, schwirrten vor seinen Augen in irren Kreisen, alles um ihn fing an, sich zu bewegen: er warf sich lang auf die Erde und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Seele kauerte: jetzt wird es kommen. Er fühlte sich eingeengt, die Winde rückten näher, alles im Zimmer schob sich ihm näher, umstellte ihn, versperrte ihm den Ausgang. Er kroch eng in sich zusammen.
643Vor seinen Augen stieg das furchtbare Portrait auf, es wuchs über den Deckel hinaus, schon schielte es aus dem Buch hervor, schon zwinkerte es boshaft mit den Augen.
644Er sprang auf: vor ihm stand er selbst. Das Gesicht war schmerzzerfurcht und die blutigen toten Augen starr auf ihn gerichtet.
645Er war wie eingewurzelt in den Boden.
646Da sah er sein Gesicht zucken, alle Muskel liefen, alle Fiebern klopften, die Zähne schlugen hörbar aneinander, die Augen schlossen sich krampfhaft und rissen sich wieder weit auf: er stürzte aus dem Zimmer, als wäre er von tausend Furien gepeitscht, lief über die Straßen aufs Feld, weiter noch in den Wald hinaus: er stürzte zusammen.
647— Was nun? Was nun? zuckte es unablässig in seinem Gehirn, da verlor er die Herrschaft über sich, vergrub sich in das feuchte Moos, tiefer noch, er verscharrte sich in die weiche Erde: nun war er geborgen!
648Er lachte in heißem Triumph, dann schrie er mit allen Kräften auf: er hörte sich, er fühlte auch einen heftigen Schmerz in der Lunge: er besann sich lange auf sich selbst. Ja, er hatte geschrien! Er versuchte, die Ursachen seines Lungenschmerzes herauszufinden…
649Da rüttelte sich sein Gehirn auf. Er setzte sich hin und dachte nach. Jetzt fühlte er nichts mehr: nur eine weite, blöde Ruhe. Er suchte sich Rechenschaft über seine Gedanken zu geben, er fühlte etwas mühsam in seinem Gehirn arbeiten: er wusste nicht, worüber er dachte, er suchte sich qualvoll darauf zu besinnen, aber vergebens.
650So saß er in einer stumpfen Resignation. Er wusste nicht, wie lange er so saß.
651Plötzlich fühlte er Fieberfrost, so heftig, dass er seinen Körper nicht bemeistern konnte, er drohte auseinander zu fallen.
652Er stand auf, fing an zu laufen und schlug den Körper mit den Armen, so hatte er immer als Knabe getan, wenn ihn gefroren hatte.
653Dann lief er wieder im Kreise herum und schlug dabei immer mit den Armen auf die Brust.
654Mit einem Ruck blieb er stehen.
655Das Kind! Mein Kind! schrie er auf. Mein Kind wird mich retten, es wird mich retten — mein Kind, mein Kind, mein Blut!
656Er horchte: eine Öde, taube Stille.
657 658 659Er lief auf das freie Feld hinaus.
660Ein blutiger Schein am Himmel! Der Himmel brennt, zuckte es ihm durch den Kopf. Götterdämmerung! Jetzt wird der Menschensohn heruntersteigen, um das Gericht zu halten.
661Er stand und starrte unablässig nach dem Feuerschein am Himmel.
662Eine Erinnerung mühte sich qualvoll aus der Nacht seiner Seele.
663Er atmete glücklich auf: dort lag die Stadt. Und dies da am Himmel — das ist ja der Schein des elektrischen Lichtes.
664— Mein Kind, mein Weib, meine Erlösung! fuhr es ihm wieder durch das Gehirn.
665Er schnellte auf. Eine unerhörte Energie ergoss sich über seinen Körper. Er schritt mit weiten, triumphierenden Schritten der Stadt zu.
666Oh, er kannte seine Erlösung, er kannte die Sonne, die in seinen Wahnsinn mit reinigender Macht hinabtauchte.
667Plötzlich packte ihn ein furchtbares Grauen: Gott! Allmächtiger Gott, wenn sie nicht da ist?
668Er fing an zu laufen, er vergaß seinen Körper. Er selbst war nur ein großes, klopfendes — Herz, er fühlte es den Boden berühren und in wilden Sprüngen aufschnellen; er kam in die Stadt.
669Da schlich er langsam wie ein Dieb: er fühlte, dass sein Ende komme, wenn sie nicht da sei.
670Schließlich kroch er fast. Er wagte nicht an das Denkmal heranzukommen: er sah es in dumpfer Stille aufragen, kalt, grausam wie sein Schicksal, er sah es sich in einen großen Dunstkreis auflösen, der zu schwirren und zu kreisen anfing, er fühlte den Boden sich um ihn drehen, heftiger, schneller noch, er taumelte… da plötzlich: aus den kreisenden Dunstringen quollen ihm zwei Augen.
671Eine unermessliche Freude zerriss ihm mit flackerndem Licht das Gehirn: er klammerte sich um ihren Arm, er presste sie an sich, zerrte an ihr, streichelte, liebkoste sie und lachte in irrer Seligkeit.
672Nun war alles Furchtbare versunken und vergessen: er hielt sie fest, er wagte nicht ihren Arm loszulassen.
673— Ich habe gestern auf Dich gewartet die ganze Nacht, sagte sie leise.
674Er zitterte und konnte kaum gehen: die Freude hatte ihn gelähmt.
675— Jetzt bin ich erlöst Durch Dich — durch Dich! Er kicherte. Ich hätte heute sterben müssen, aber jetzt bin ich erlöst. Du hast mich wiedergeboren, sagte er grübelnd.
676 677— Ein Vampir? hörte er heraus.
678 679— Aber weißt Du nicht, dass wir nur durch einander wiedergeboren werden? sagte sie geheimnisvoll.
680— Du — Du… auch? stammelte er.
681 682— Bist Du hier? Hier? fragte er entsetzt. Er betastete sie mit der Hand.
683— Bist Du da? fragte er wieder.
684Er fing an zu stottern und zu zittern.
685— Ja, ich bin hier. Ich fasse jetzt Deine Hand. Fühlst Du sie? Oh, wie Deine Hand brennt!
686 687— Bist Du Agaj? fragte er nach einer Weile.
688 689 690— Du bist nicht Agaj? fragte er wieder nach einer langen Pause.
691 692 693Diesmal kam es ihm vor, als ob sie durch eine endlose Flucht von Korridoren gingen, durch eine trostlose, verlassene Öde von Zimmern. Er hörte das leise Echo seiner Schritte, wie ein rhythmisches, taubes Herzklopfen.
694— Ich habe nicht Angst! sagte er plötzlich.
695 696 697 698— Oh! Ich bin so fürchterlich müde! Er konnte nicht unterscheiden, war es seine, war es ihre Stimme?
699 700— Ich bin bei Dir! Sie hielt seine Hand fest.
701Nie hatte er eine so dunkle Stimme gehört. Das war Agaj’s sammetdunkles Fleisch.
702Sein Herz krampfte sich zusammen.
703— Sprich, sprich zu mir! er presste ihre Hand.
704— Du bist so krank. Du bist so krank, wiederholte sie leise und presste ihre Wange an seine.
705So saßen sie lange, lange auf dem Rand des Bettes.
706Er wurde ruhig und weich wie ein Kind.
707— Wie gut Du bist! Wie unendlich gut! flüsterte er auf ihre Lippen.
708— Jetzt leg Dich hin. Ich werde bei Dir schlafen. Ich werde Dich halten. Sieh', sieh', Du bist jetzt so ruhig, Dein Fieber ist weg.
709Sie entkleidete sich und legte sich neben ihn.
710— Ich werde Dich in meine Haare einwickeln, flüsterte sie und machte ihr Haar auf… Mein Haar ist so lang, es reicht mir über die Knie…
711— Dein Haar ist weich wie Seide! Oh, viel weicher noch.
712— Ist Dein Haar schwarz? fragte er nach einer Pause.
713 714 715 716 717— Ich werde Dich auf Deine Brust küssen, sagte sie plötzlich. Deine Brust glüht, und meine Lippen sind so kühl.
718 719 720Sie küsste ihn über die ganze Brust, dann verschränkte sie ihre Hände um ihn, das Haar ergoss sich in seidener Flut über seinen Körper, sie legte ihren Kopf an seine Brust.
721— Du wirst nicht von mir gehen? fragte sie ängstlich.
722— Nein, nein… oh', jetzt ist alles vorüber.
*
723Nun war es wohl Mittagszeit. Er fühlte, dass er jetzt endlich werde etwas essen können. Das machte ihn glücklich. Nun war er auch Agaj los.
724Er lächelte. Er lächelte jetzt immer still und geheimnisvoll.
725 726Er schrak empor und begann zu zittern.
727Das war sie! Ja, sie! Er fühlte sie.
728Agaj trat ein. Ihr Blick fraß sich ihm ins Mark.
729Sie setzte sich ihm gegenüber und sagte lange kein Wort.
730Plötzlich warf sie den Kopf auf und sagte höhnisch:
731— Wo hast Du Dich denn gestern vor mir versteckt?
732— Ich habe mich gar nicht versteckt, sagte er ruhig. Ich wollte Dich einfach nicht mehr sehen.
733Er erschauerte. Aus der Hölle der abgründigen Augen dieses Weibes schoss ein kranker Hass hervor.
734— Du warst die ganze Zeit bei dem Mädchen! Er glaubte ein Knirschen zu hören… Du warst bei ihr die ganze Nacht und gestern… sie brach plötzlich ab.
735— Ja, ich war bei ihr. Er lachte boshaft. Berührt Dich das eigentlich? Ha, ha, Du bist ja eifersüchtig.
736— Ich erlaube Dir nicht, ich will nicht, dass Du ein fremdes Weib berührst, ich will es nicht, verstehst Du, ich will es nicht!
737Sie schrie es mit kurzen, gedämpften Schreien.
738Er ließ den Kopf sinken und stützte ihn mit beiden Händen.
739— Meine Seele ist scheu und schamhaft, sagte er langsam und sehr leise. Du hast sie scheu gemacht. Da warst roh… sieh, ich bin einmal auf der Straße gegangen, und da fühlt' ich mich nur als ein großes klopfendes Herz. Das ist ein Symbol für mein ganzes Wesen. Ich bin auch in Wirklichkeit nur ein großes klopfendes Herz. Und dieses Herz hat eine entsetzliche Scham. Die Scham ist das kalkige Gehäuse, in das sich ein solches Herz für immer wie eine Schnecke verkriechen kann. Die Scham macht kalt und scheu und hat Ekel vor den Menschen. Jetzt fühl' ich kein Herz mehr, es ist verborgen, es schrumpft zusammen, es verkroch sich in dem Kalkgehäuse…
740Er sah zu ihr auf. Er glaubte in ihren Augen große Tränen zu bemerken. Er war nicht sicher.
741Wieder ließ er den Kopf sinken.
742— Sieh' jetzt zum Beispiel. Ich glaube, ich habe Tränen in Deinen Augen gesehen, aber selbst meine Scham ist scheu, sie glaubt nicht an Deine Tränen.
743Da sank sie ihm plötzlich zu Füßen. Sie fasste seine Hände und küsste sie in einer Tollwut von Leidenschaft.
744Sie wühlte ihn auf mit ihrer heißen (Her, mit den bettelnden Küssen, seine Leidenschaft kroch wieder hervor, drängte sich wütend in jeden seiner Nerven.
745Aber er beherrschte sich mit einer unnatürlichen Macht und entzog ihr leise seine Hände.
746Da warf sie sich auf ihn, klammerte sich an ihn, biss sich in ihm fest, erstickte ihn mit ihrer kranken Raserei.
747Es schwindelte ihn. Kopfüber stürzte er sich in diese Hölle von Glück und Grauen.
748— Du — Du liebst mich? stammelte er mühsam.
749Sie hing an seinen Lippen. Sie sog an ihnen, sinnlos, gierig, sie konnte sich nicht sättigen.
750Da sprang er plötzlich auf, sie kochte vor Wut.
751— Du bist ja kalt, kalt!… Man muss Dich erobern… Ihre Stimme bebte und war heiser. Ha, ha… wir haben die Rollen vertauscht. Du bist jetzt ein Weib. Ha, ha, ha… es ist wohl pikant, sich einmal als Weib zu fühlen?…
752Sie biss ihn mit dem ätzenden Hohn. Er starrte sie an, dann wurde seine Seele stumpf. Er sah sie nur dastehen mit dem breiten, gespreizten Hohn.
753— Und, und… sie stockte… Was hab' ich mit Dir zu tun? Geh' doch zu Deinem Mädchen, schrie sie rasend auf.
754Er bemerkte plötzlich, dass sie ein graues Kleid anhatte.
755— Warum hast Du nicht Dein schwarzes seidenes Kleid an?
756Sie sah ihn erstaunt an. War er wirklich krank? Spielte er Komödie?
757— Das reizt Dich zu sehr auf, sagte sie endlich frech. Du darfst Dich nicht aufregen. Deine Nerven sind zu schwach für den sexuellen Erethismus, in dem Du ewig lebst. Das reibt Dich auf.
758 759 760Plötzlich stand sie auf und trat dicht an ihn heran.
761— Du kommst heute um zehn Uhr abends zu mir, sagte sie scharf. Die Mutter ist verreist.
762— Ich komme nicht! fuhr er rasend auf.
763— Du kommst! wiederholte sie lächelnd.
764 765— Ich schwöre Dir, dass ich nicht komme, schrie er heiser auf. Ich schwöre! er stampfte mit den Füßen.
766— Du kommst! sagte sie sehr ernst.
767Die Wut zersprengte ihm sein Gehirn. Er hatte eine tierische Lust, dies Weib zu morden. Es schrie etwas in ihm dies Wort: Morden! Die Sinne vergingen ihm. Ein Schwindelgefühl wirbelte wie ein feuriges Feuerscheit in seiner Seele. Er ballte die Fäuste und ging auf sie zu.
768— Du wirst heute um zehn Uhr zu mir kommen, sagte sie leise und ging aus dem Zimmer.
769— Ich werde nicht! brüllte er auf und warf sich auf den Boden. Die Seele war ihm aufgerissen und blutete aus tausend Wunden. Er wälzte sich auf dem Boden und vergrub in wütender Ohnmacht seine Hände in den Teppich.
770Mit einem Mal entdeckte er ihn wieder, ihn — sich selbst.
771Sein Blut stockte, er fühlte ein Stechen und Prickeln in den Haarwurzeln, er war gebadet in Angstschweiß.
772Er kroch wie ein Tier auf Händen und Füßen in eine Ecke und starrte unverwandt hin: dies grässliche verzerrte Gesicht! Sein eignes Gesicht.
773Er schloss die Augen und drückte sich krampfhaft an die Wand.
774Jetzt wurde er es nicht mehr los werden. Er musste sich daran gewöhnen.
775Er fing an, lange und leise vor sich hin zu stammeln.
776Er wurde plötzlich neugierig auf sein Gesicht, er machte die Augen auf: es war verschwunden.
777Aber er fühlte es um sich. Es war da. Es füllte das ganze Zimmer. Er war wie eingehüllt in sich selbst.
778Eine unendliche Verzweiflung senkte sich ihm langsam fressend und zerstörend in die feinste Pore seines Organismus.
779Da schnellte er auf und fing an wild zu lachen. Sein Lachen kreilte ihm wie ein tierisches Wiehern in den Ohren.
780— Gut, gut, ich habe nichts dagegen, durchaus nichts dagegen. Jetzt werd' ich nie mehr einsam sein. Immer Gesellschaft, immer Gesellschaft! In meiner eigenen Gesellschaft! He, he… kann ich eine bessere bekommen?
781Mit einem Ruck wurde sein Gehirn gelähmt. Sein Bewusstsein schwand.
782Als er aufwachte, war es dunkel im Zimmer.
783Er sprang auf in wilder Hast. Es war schon halb zehn. Ohne eine Sekunde zu überlegen, lief er zu Agaj.
784Vor dem Hause blieb er stehen und lächelte. Er sprach sehr freundlich mit sich selbst und ging hinauf.
785Sie stand zitternd vor der Tür.
786Er sah alles mit einer übernatürlichen Deutlichkeit. Hektische Flecke glühten auf ihren Wangen: sie waren eingefallen. Sie atmete unruhig, sie rang nach Atem. Sie stand vor ihm in einem schwarzen seidenen Ballkleide, auf den nackten Armen hatte sie lange rote Handschuhe, die über die Ellenbeuge reichten.
787— Sieh', sieh' mich an. Ich habe mich für Dich geschmückt. Du liebst mich so, sag' es, sag'!
788Sein Gehirn kam in einem Nu ins Gleichgewicht. Er fraß an diesem schlanken Leib.
789— Wie schlank Du bist, murmelte er leise. Wie ein Panther… wie ein glänzendes, geschmeidiges Tier… Und wie Du Dich bewegst!…
790— Küss mich hier — hier! sie zeigte auf den nackten Arm. Du hast seit zehn Jahren meine Arme nicht nackt gesehen.
791 792— Ich gebe Dir heute das Abschiedsfest. Ich reise heute Nacht weg, weit weg aufs Meer.
793— Aufs Meer? wiederholte er dumpf. Es kam ihm so selbstverständlich vor, dass sie aufs Meer wollte.
794— Komm, komm, setz Dich! Hier ist viel, viel Wein! Wir werden trinken heute…
795Sie lachte lange, dann beugte sie sich zu ihm, legte den Kopf auf seine Brust und flüsterte leise:
796— Ich gebe auch mir das Abschiedsfest. Ich komme nie wieder zurück… Gib, gib mir Deine schmalen Knabenhände, Deine teuren, goldnen Hände… Oh, wie ich sie liebe! Sieh' ich bin Deine Agaj, — die Agaj, die Dir wie ein Hund folgte, die sich wie eine Katze an Deinem nackten Leibe rieb… Ich — ich fühle Dich so deutlich hier, hier, an meinem ganzen Körper fühl’ ich Dich… Und meine Seele ist so stolz… Nie sah ich einen Mann außer Dir. Ich weiß nicht, wie sie aussehen. Es kamen so viele her, aber ich wusste nicht, dass sie Männer sind — das waren Hunde, Gegenstände, geschlechtslose Neutra. Nur Du — Du immer vor meinen Augen, immer um meinen Leib… Und sieh, meine ganze, unbefleckte Seele, sie gehört Dir, immer hat sie Dir gehört… Nicht eine Sekunde schlich sich dahinein der Gedanke an einen Anderen… Bist Du nicht stolz auf eine solche Seele? Bist Du nicht stolz auf einen solchen Besitz? Ich bin an Dir emporgewachsen — in der schwülen Treibhaushitze Deines Leibes, Deiner Seele, Deines Pulsschlags bin ich groß geworden… Ich atmete Dich, ich ging wie eingewickelt in Dich… Du, Du… mein Blut, mein Mann Du!
797Sie wühlte sich mit ihrem Kopf in seine Brust, dann lachte sie still auf.
798— Aber trink, trink doch!… Was meinst Du, wenn wir uns heute ganz und gar betränken? Sie kicherte vergnügt, wie ein Kind. Erinnerst Du Dich, wie wir einmal bei unserem Onkel waren, und uns in seinem Weinkeller einschließen ließen? Gott war das furchtbar! Wie?
799Sie tranken sich zu und leerten die Gläser, dann nahmen sie sich an den Händen.
800— Agaj, Agaj, — ich kenne Dich nicht wieder. Du bist, wie Du früher warst…
801Sie starrte wie abwesend vor sich hin.
802— Du, du… sagte sie leise. Jetzt sind wir wieder eingeschlossen in einem dumpfen Keller… Huh, wie grausig!
803 804— Und Du — Du, mein Liebling. .. Huh, huh, die Nacht, die Nacht! Hörst Du die Eulen? Hörst Du die Fledermäuse gegen die Fenster schlagen? Und die grässlichen Kröten, die im Keller herumkriechen…
805— Hu, hu, kicherte er irrsinnig.
806— Sind wir vielleicht beide wahnsinnig? fragte sie plötzlich ängstlich… Aber das ist ja jetzt gleichgültig… Du, Du, küss mich hier… sie knöpfte hastig ihre Taille auf… Das hast Du einmal vor zehn Jahren getan. Das gießt sich wie flüssiges Feuer über den ganzen Körper. Die Schauer kriechen wie lange, kalte Schlangen über den Leib…
807Sie verstummte und zitterte heftig. Er küsste sie mit kranker Leidenschaft auf ihre Brust.
808— Noch mehr! Sie war ganz von Sinnen.
809Er zerriss ihr Hemd und sog an ihrer Brust.
810Sie zuckten. Eine zerstörende Wollustextase riss ihnen die Nerven entzwei.
811Sie schrie plötzlich leise auf.
812— Lass', lass', keuchte sie heiser. Mein Kopf birst…
813Sie warf sich von ihm weg, aber im nächsten Moment setzte sie sich wieder dicht an ihn heran.
814Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, drückte ihn fest an ihre Brust und flüsterte ihm leise ins Ohr:
815 816Aber im selben Nu rückte sie wieder von ihm weg und lachte.
817— Oh Du! Du! Warum sagst Du mir jetzt nicht, dass ich sentimental bin? Du hattest jetzt eine so prachtvolle Gelegenheit, Dich an mir zu rächen. Oh ja, Du verschmähst es — Deine Seele ist groß und schön. Ich liebe Deine Seele, ich liebe die tiefe Schwermut Deiner Seele, ich liebe die Tiefe und den Abgrund in Dir. Alles wächst zu einem endlosen Abgrund in Dir, alles in Dir wird so furchtbar tief und schmerzhaft. Du bist mir so heilig mit Deinen Visionen. Sag', sag', hast Du oft Visionen? Du, Du bist der Einzige, der Qual und Schmerz in sich hat! Und Du wehrst Dich nicht dagegen, Du wehrst Dich nicht gegen den Schmerz, Du liebst ihn auch, wie ich… Oh, lass', lass' mich alles sagen. Ich habe so gedürstet, ich habe so gelechzt, Dir dies alles zu sagen… Ich liebe Dich, weil es Dich ekelt vor Glück… Ich liebe Dich, weil Du die Vernunft hassest und Dich tausendmal lieber in den Abgrund stürzest…
818Sie hing sich ihm um den Hals und rieb langsam ihr Gesicht an dem seinen.
819— Und Du liebst mich jetzt. Ich fühle wie grenzenlos Du mich liebst. Deine Seele klopft mir entgegen, Dein Blut fließt in meine Adern über, und Dein Geist strömt in mich über, Dein Geist mit der ganzen Hölle von Schmerz, mit der abgründigen Tiefe von Qual. Hörst Du mich sprechen? Hörst Du Dich in mir sprechen? Du hast mich sprechen gelehrt, Du hast Deine Worte in meine Seele gepflanzt…
820Sie wiegte sich leise an seinem Körper.
821— Und ich hasse die Vernunft. Ich habe keine Vernunft. Ich habe Ekel vor der niedrigen bürgerlichen Vernunft, die den Schmerz wie die Pest fürchtet… Kleine, besorgte Bürgerfrauen, kleine Bürgerfräulein haben Vernunft… Oh, wie sie vernünftig sind!…
822 823— Nicht wahr? Kleine Bürgerfräulein, die in kleiner, enger, vernünftiger Atmosphäre aufgewachsen sind, die müssen wohl vernünftig sein… Ha, ha, ha… Aber ich bin das Kind Deines Geistes…
824Sie waren beide wie verzückt. Sie kamen in einen Zustand von einer visionären, somnambulen Extase, ihre Seelen wogten in einander über.
825Sie schwiegen, eng aneinander gepresst.
826— Oh, ich hätte es nie gedacht, dass es so unendlich gut ist in Deinen Armen…
827 828Plötzlich ruckte sie von ihm weg.
829— Du — Du… warst Du wirklich bei dem Mädchen?
830 831 832Er raffte alle seine Kräfte zusammen…
833 834— Du lügst, sagte sie traurig… aber ich bin schuld daran… war ich roh zu Dir?
835— Nein, nein… Nein, Du warst es nicht… Du bist mein, Agaj… Du… Du…
836Er sank an ihr nieder und küsste ihre Füße.
837Sie nahm ihn auf, hielt seinen Kopf in den Händen und sagte wie irrsinnig:
838 839— Das ist das Ende vom Liede, wiederholte er.
840 841 842 843 844— Nicht zusammen… Verstehst Du mich nicht?
845 846 847 848 849 850 851— Nein! wir wollen nicht traurig sein! Trink, trink!
852 853Und wieder saßen sie lange, dicht aneinander gekauert.
854— Hör' Agaj, gibt es keinen Ausweg?
855 856— Und… und, wenn wir beide wegfahren und, — wenn alles wie ein Alp abgeschüttelt ist?…
857 858 859— Ich weiß es nicht… Nein, es geht nicht… Sprich nicht darüber, es ist nutzlos, sagte sie müde.
860 861— Nein, nein! Ich habe Ekel vor der Vernunft. Es ist etwas, was ich nicht kenne. Ich sehne mich bis zum Wahnsinn nach Dir… Du bist der größte Mensch, den ich kenne, Du bist mein größter Künstler, und ich würde mit Freude Deine ganze herrliche Menschlichkeit, Deine ganze gewaltige Kunst für ein Stück Deiner nackten Haut geben… Sieh, sieh meine Arme, sie sind so schmal, aber sie haben Muskeln von Stahl… Wie oft hab ich Dich nicht mit diesen Armen in meinen Nächten umfasst und an mich gepresst!… Sieh meinen schmalen Körper, wie oft hat er sich nicht über den Deinen gewunden!… und, und… sie stotterte verwirrt… im letzten Momente trennt uns etwas, reißt uns auseinander… Das ist wohl dasselbe Blut… Fühlst Du es nicht?
862 863Sie raffte sich plötzlich zusammen.
864 865 866— Sind wir verrückt? fragte sie.
867 868Ihre Hände verflochten sich krampfhaft. Ihre Gesichter verzerrten sich schmerzhaft.
869— Geh, geh, flehte sie schluchzend. Der Wahnsinn kommt, der Wahnsinn kommt… Geh, geh!
870— Ich bleib' bei Dir! sagte er hart.
871Sie starrte ihn in entsetzlicher Angst an.
872— Dein Wille schwillt… sie kam in eine furchtbare Erregung. Dein Wille schwillt so grässlich an. Jetzt bekommst Du Macht über mich… Du bist so grässlich stark… Geh, geh… mein Kopf kracht und meine Brüste glühen… Feuer in meinem ganzen Körper.
873Sie sank an ihm nieder und umklammerte seine Beine.
874Seine Seele brach plötzlich in einer stumpfen Verzweiflung. Das Empfinden hatte sich von seinem Willen losgelöst, er wurde machtlos. Eine dumpfe öde Leere gähnte in seinem Gehirn.
875Sie setzte sich auf seinen Schoß, lehnte ihren Kopf an seine Brust und weinte. Dann nahm sie seinen Kopf, küsste ihn auf den Mund, auf die Augen und sah ihn fortwährend an mit einem Blick, in dem die Verzweiflung in ein brütendes Jenseits vom Schmerze zerbrochen war.
876 877Er erhob sich mechanisch. Seine Seele war taub.
878 879— Sieh das Meer! Wie gut wäre es, mit Dir da unten zu liegen — in Deinen Armen, Deinen Armen… aber ich liebe Deine Frau. Sie würde den Schmerz nicht überleben… nein, nein! es müsste furchtbar sein, mit diesem Schmerz an Dich zu denken. Ich muss allein.
880 881Sie führte ihn hinunter. Sie traten in den Garten.
882 883Plötzlich stürzte sie sich auf ihn, sog sich tief in seinen Hals, biss sich mit den Zähnen fest und riss ihm die Haut auf.
884 885Er hörte, dass die Tür zugeworfen wurde, er fühlte einen heftiges Schmerz, er griff mit der Hand nach dem Hals: seine Hand wurde blutig.
886 887 888Er ging mit weiten, festen Schritten.
889— Sie wartet auf mich am Denkmal, schoss es ihm durchs Gehirn.
890Er machte eine weite abwehrende Handbewegung und lächelte wieder.
891Über seine Seele ergoss sich ein stiller, endlos weiter Triumph.
*
892Als er nach Hause kam, machte er mechanisch das Fenster auf, setzte sich auf das Fensterbrett und starrte in die Tiefe.
893Jemand ging mit einer Laterne über den Hof.
894Das Licht, dies taube Irrlicht in der Tiefe interessierte ihn sehr.
895Der Andre war im Zimmer. Er sah ihn grinsen, er sah das fürchterliche, verzerrte Gesicht. Aber er hatte keine Angst mehr. Er zuckte verächtlich mit den Achseln.
896Und wenn ich mich in tausend Ich’s spaltete, würd' ich doch allein bleiben. Agaj ist ja nicht mehr.
897Da ist das Meer — und da unten dieser steinige, gepflasterte Abgrund.
898Er wich unwillkürlich zurück und machte Licht an.
899Ein Brief auf dem Tisch. Er riss ihn auf. Von seiner Frau.
900„Mein Gott, was ist mit Dir? Warum schreibst Du nicht ein Wort? Ich sterbe hier vor Angst um Dich.“
901Er lächelte und küsste dreimal den Brief. Dann setzte er sich aufs Bett.
902Er empfand wieder einen brennenden, stechenden Schmerz. Er ging an die Waschtoilette und wusch sich die Wunde aus. Sein Rock war über und über blutig.
903Er nahm ihn ab. Das sah ekelhaft aus. Dann löschte er das Licht und legte sich aufs Bett.
904Plötzlich fühlte er wieder den Menschenknäuel sich heranwälzen. Langsam, wie ein kauerndes Gebetmurmeln. Es kam näher, es schwoll an, wie ein irres Stammeln, dann ging es wie ein röchelnder Marterseufzer durch die Luft.
905Und jetzt wieherte es gell auf, ein höllisches Hohngelächter zerriss die Luft, schwoll an, ballte sich zusammen, wirbelte sich in die Tiefe und schoss dann mächtig, jäh empor in einem schreienden Würgegesang:
906
Es war wie eine tollgewordne Qual, die die mageren, knochigen Hände aus den Gelenken emporwarf und nach Erlösung schrie.
907Und plötzlich, langsam hob sich ein Weib empor in weitem, scharlachrotem Mantel, sie wuchs empor hoch über das ganze Erdenall, auf dem schmerzverzerrten Gesichte ein ödes, versteinertes Lächeln.
908Und da sah er den Knäuel sich lösen, einen Strom von Menschen sah er sich rings um das Weib gießen, Menschenpaare in ekelhafter Kopulation mit verrenkten Gliedern, schmerzhaft in einander verflochten und verwachsen. Er hörte ein tierisches Gewieher, berstend in geschlechtlicher Qual, er sah Gesichter verzückt in tollen Wollustorgien, Leiber sah er, zerfressen von Gift, mit eklen Runden bedeckt, und unten, ganz unten sah er sich selbst mit blutiger, zerquetschter Stirn, mit geballter Faust, zerrissen von einer Verzweiflungsagonie und schreiend, mit berstender Lunge emporschreiend…
909Und aus den lechzenden, gierigen Schreien, aus dem Schmutz und Ekel der geschlechtlichen Orgie, aus all der verreckenden Qual löste sich von Neuem der wahnsinnige Schicksalsgesang von Menschen, die unwissend aufeinandergeworfen, an einander gekettet werden, Menschen die in einander wachsen und sich nicht lösen können: ein wirbelnder Sturm von Verzweiflungsschreien:
910 911 912Noch klangen die letzten Töne in seinen Ohren. Sein Gehirn war wirr, vergebens versuchte er einen Gedanken zu fassen.
913 914Das erste Morgengrauen fraß mühselig an dem Dunkel des Zimmers.
915— Aber, mein Gott, wo bleibt denn Agaj? fuhr es ihm plötzlich durch den Kopf.
916Er stand auf und blieb mitten im Zimmer stehen.
917Ah, Agaj hat sich sicher im Garten versteckt, hinter der alten Pappel… Sie versteckt sich immer hinter dieser Pappel.
918Er kicherte und schlich leise auf den Zehen ans Fenster.
919Nun muss ich ganz leise die Verandatür aufmachen… He, he… Sie hat sich hinter dem Garten versteckt… Sie hat sich auf das Meer versteckt… Sie ist selbst das Meer… Aber ich werde sie schon finden…
920Nur leise, leise… sonst entflieht sie mir…
921Er kroch auf die Fensterbrüstung.
922— Ich werde sie schon finden… Nur ganz leise… Oh… da… da ist sie…
923Er stand im Fenster mit weit vorgestreckten Armen.
924 925