Paul Heyse Die schwarze Jakobe ISBN 978-83-288-2309-9 1883 Eines Abends, als ich, meiner täglichen Gewohnheit nach, bei Frau von F. eintrat, fand ich meine alte Freundin nicht wie sonst in ihrem Lehnstuhl am Tische sitzend, hinter dem grünen Lichtschirm, in dessen Schatten sie der Vorlesung ihres Fräuleins zuzuhören pflegte. Das Buch zwar lag aufgeschlagen neben der Lampe, der Platz der Vorleserin aber war leer, und die alte Dame ging trotz ihrer Gebrechlichkeit mit hastigen, aufgeregten Schritten hin und her über den weichen Teppich des halbdunklen Gemaches. Als sie mich eintreten sah, blieb sie stehen, streckte mir aber nicht wie sonst mit herzlicher Gebärde die kleine welke Hand entgegen, sondern begrüßte mich mit einem wunderlichen Kopfschütteln, das eher nach einer Abweisung als einer Bewillkommnung aussah. Sie kommen gerade zur rechten Zeit, rief sie mir entgegen, um mich einmal im Zorn zu sehen und sich tüchtig schelten zu lassen! In einer halben Stunde würde ich mich beruhigt haben, und morgen hätte ich vielleicht alles vergessen; denn es ist entsetzlich, wie rasch in so einem alten Kopf alle neuen Eindrücke verblassen und verschwinden! Nun aber ist die Schale meines Zornes noch frisch gefüllt und soll bis auf den letzten Tropfen über Ihr schuldiges Haupt ergossen werden! Wenn ich nur erst wüsste — erwiderte ich, indem ich zu lächeln versuchte, obwohl ich allerdings trotz meines arglosen Gewissens durch die leidenschaftliche Erregung der sonst so gütigen Frau bestürzt worden war. Was Sie verbrochen haben? Sie haben mir ein schlechtes Buch empfohlen; das ist fast so strafbar, als wenn Sie einen schlechten Menschen bei mir eingeführt hätten. Oder nicht eigentlich ein schlechtes Buch, nur ein schwaches, das aber die Kraft gehabt hat, an meine teuersten Erinnerungen zu rühren und mich in die helle Empörung zu versetzen. Zum Glück hat meine gute Camilla mitten im Lesen einen Brief erhalten, den sie sofort beantworten musste. Wer weiß, was ich sonst noch alles zu hören bekommen hätte. Ich war an den Tisch getreten und hatte in das offene Buch geblickt. Nun konnte ich mich in der Tat des Lachens nicht enthalten. Wenn es nichts Ärgeres ist, verehrte Freundin! sagte ich. Der gute Fortlage und seine psychologischen Vorträge! Was in aller Welt haben Sie in diesen Blättern gefunden, das Sie so in Harnisch bringen konnte? Der treffliche Mann, der diese Vorträge gehalten, war freilich kein Ödipus, der das Welträtsel der alten Sphinx zu lüften verstanden hätte, aber ein freier Kopf, ein edles, zartsinniges Gemüt, ein gewissenhafter Beobachter, und wenn Sie das gemischte Publikum bedenken, vor dem er hier zu reden hatte — Hören Sie auf, ihn zu loben! unterbrach sie mich, und ihre sonst so sanfte Stimme zitterte noch immer von verhaltenem Unwillen, Sie könnten diesen Philosophen nicht schärfer tadeln als durch diese Ihre Schutzrede. Sagen Sie selbst: ist nicht Denken das Intimste und Kühnste, das Rücksichtsloseste und Schamloseste, was es geben kann? Ist nicht Philosophieren im wahren und echten Sinne immer etwas Zynisches? Wer es in Wahrheit gewissenhaft betreibt, darf der sich davor scheuen, die Wahrheit zu entblößen, die im gedankenlosen alltäglichen Leben immer nur mit hundert Schleiern verhüllt sich blicken läßt? Und kann Der sich für einen Denker ausgeben, der dies bedenkliche Geschäft vor den Augen eines gemischten Publikums unternimmt, dem er ums Himmels willen durch den Anblick der nackten Wahrheit kein Ärgernis geben darf? Und dieser hier, den Sie so „edel und zartsinnig” finden, hat sich nicht einmal Zwang antun müssen, seine Weisheit den Unmündigen mundgerecht zu machen. Er scheint mir selbst so mädchenhaft geartet gewesen zu sein, dass er sich hütete, für die letzten Fragen das letzte Wort zu suchen und dem verschleierten Bilde die letzte Hülle abzureißen, damit nur ja „der schöne Wahn” nicht mit entzweireiße. Glauben Sie nur nicht, lieber Freund, ich sei ein alte Sansculottin und wolle die weltalte Ordnung der Gesellschaft umstürzen, die nun einmal darauf gegründet ist, dass man im täglichen Verkehr beileibe nicht alles beim Namen nennt. Oft sind ja auch die Dinge so häßlich, dass man sie unerträglich fände, wenn man nicht Verschönernde Ausdrücke dafür hätte. Aber ein Denker von Profession, ein Welt– und Herzensfündiger, von dem verlang' ich, dass er sich nicht einen Augenblick besinne, mit seinem Seziermesser bis an den geheimsten Sitz des Lebens zu dringen, auch wenn schöne Seelen mit schwachen Nerven vor dem Anblick der innersten Natur der Dinge zurückschrecken sollten. Sie war während dieser eifrigen Rede zu ihrem Lehnstuhl gewankt und ließ sich nun erschöpft in demselben nieder. Immer noch begriff ich nicht, was in diesem Buch es gewesen sein möchte, das sie so gewaltsam aus ihrem Gleichgewicht gerissen hatte. Sie mögen Recht haben, sagte ich. Es ist eine Unsitte, schwere psychologische Fragen — und gibt es überhaupt leichte? — in einer kurzen Stunde vor wenig oder gar nicht vorbereiteten Zuhörern abzuhandeln. Aber hat nicht alle und jede Erziehung dieselbe unmögliche Aufgabe zu lösen? Und löst sie am Ende doch, indem sie mit unverstandenen Worten, die sich nur allmählich aufhellen, immer engere Kreise um dunkle Begriffe zieht, bis hier und da, wie im Mittelpunkt eines Brennspiegels, ein Funken aufleuchtet? Sagen Sie mir nur, wo das *ungemischte* Publikum zu finden wäre, vor welchem der Denker, ohne sich herabzuwürdigen, seine letzten Erkenntnisse ausbreiten könnte? Etwa in den Hörsälen der Universitäten, wo eine grüne Jugend zu seinen Füßen sitzt, die, während er spricht, an die nächste Mensur oder den gestrigen Kneipabend denkt? Sie antwortete nicht sogleich. Sie hatte den kleinen Kopf in die Hand gestützt und schien meine letzten Worte überhört zu haben. Plötzlich blickte sie auf, sah mich mit ihren dunklen Augen durchdringend an und sagte: Was halten denn Sie von der Freundschaft? Sind Sie auch der Meinung Ihres Philosophen, das Gefühl, das wir so nennen, wurzle in dem Geselligkeitstriebe, in jenem Instinkt, der Bienen und Ameisen und Vogelschwärme zusammenführt und die Menschen dazu treibt, Vereine zu stiften und Staaten zu gründen? Und wie denken Sie über den Ausspruch des großen Aristoteles: nur unter Guten sei Freundschaft möglich? Sie mögen mich nun im Stillen eine hochmütige alte Närrin schelten — ich behaupte dennoch: wenn Ihre Philosophen nichts Klügeres von der Freundschaft zu sagen wissen, so sprechen sie wie Blinde von den Farben. Ich wenigstens — ich habe so wenig Geselligkeitstrieb, dass, wenn es auf mich angekommen wäre, die Menschen noch heut in lauter einzelnen Hütten über die ganze Erde zerstreut wohnten, und gleichwohl und eben darum glaube ich besser als die Meisten, denen ihre sogenannten Freundschaften eben nur zu dem übrigen Komfort des Lebens gehören, zu wissen, was Freundschaft sei. Gerade diejenigen, die von allgemeiner Menschenliebe überfließen und in den Ruf einstimmen: Seid umschlungen, Millionen! haben die geringste Anlage, das schwächste Bedürfnis nach dem, was ich allein dieses hohen Namens würdig finde. Ein sogenannter Menschenfreund — er mag sehr respektabel sein, vielleicht weit edler, sittlicher, wohltätiger, als der Freund eines Einzigen. Aber man sollte verschiedene Dinge nicht mit demselben Namen bezeichnen, Freundschaft nicht mit Nächstenliebe oder Humanität verwechseln. Sie schweigen? Sie sind nicht meiner Meinung? Ober meinen Sie, dass eine kleine alte Frau nicht mitsprechen dürfe, wo der große alte Aristoteles gesprochen hat? Durchaus nicht, verehrte Freundin! erwiderte ich. Ich glaube nicht daran, dass irgendein Denker irgendeinen Gedanken je zu Ende gedacht habe, so dass die späteren, wenn sie ihr eigenes Leben erleben und neue Blicke in die Welt tun, nichts davon– und dazuzudenken hätten. Was aber jenes aristotelische Wort betrifft, von dem ich im Augenblick nicht weiß, in welchem Zusammenhang es steht, so begreife ich nicht, was Sie so lebhaft dagegen aufbringt. Auch ich glaube in diesem Punkt einige Erfahrung zu haben und bin ganz Ihrer Meinung, dass es töricht ist, Freundschaft aus der allgemeinen menschlichen Bedürftigkeit, dem Trieb nach Anlehnung und Verbrüderung herzuleiten. Gerade dass man Einen unter Tausenden sich zum Freunde wählt — Wählt! — unterbrach sie mich wieder. Wie Sie dies Wort nur brauchen können, wo es sich um eine Naturmacht handelt, die alles Wollen und Wahlen ausschließt! Man kann allenfalls einen Beruf wählen, eine Konfession, eine Gattin — obwohl auch in all diesen Fällen, wenn es immer mit rechten Dingen dabei zuginge, nur von einem Müssen die Rede sein sollte. Hier aber können Zweckmäßigkeitsgründe den Ausschlag geben. Und freilich — aus eben solchen Gründen „Wählen” die meisten Menschen auch ihre Freunde, wegen dieser oder jener nützlichen oder angenehmen Eigenschaften, deren Mitgenuss ihnen durch eine vertraute Verbindung gesichert wird. Mir aber erscheint eine Freundschaft, die aus solchen Quellen entspringt, so wenig als die echte und rechte, wie ich das Wort Liebe entweihen möchte, wo es sich um eine Wahl aus irgendwelchen Rücksichten handelt, und seien sie der edelsten Art. Solche Bündnisse können sehr segensreich werden; die Macht der Gewohnheit und der Dankbarkeit für vieles Gute und Schöne kann sie mit der Zeit mehr und mehr adeln: immerhin bleibt in ihnen ein Erdenrest kühler und kluger Überlegung, im besten Falle die Früchte wahrer Hochachtung und sittlicher Würdigung. Was sich aber in Wahrheit Liebe und Freundschaft nennen darf, muss auf einem Grunde wurzeln, der mit dem Verstande nichts gemein hat, auf einem dunklen, unerforschlichen und unergründlichen Zuge der Natur; nur der ist so stark, dass er, wie es in der Bibel heißt, stärker ist als der Tod und die Pforten der Hölle. Solange ich einen Menschen nur *liebenswürdig* finde in dem üblichen Sinne des Wortes, darf ich noch nicht sagen, dass ich ihn *liebe*. Solange ich an einem anderen nur eine Reihe trefflicher Gaben und Tugenden bemerke, darf ich mir nicht anmaßen, sein *Freund* zu sein. Er *selbst*, sein *verhülltes* undurchdringliches Wesen, seine Persönlichkeit mit all ihren Rätseln, Schwächen und Stärken muss mich anziehen, bis ich mich nicht mehr dagegen wehren kann und nach schrankenloser Hingebung verlange. Und so ist im Grunde Liebe und Freundschaft ein– und dasselbe, nicht etwa durch einen höheren oder geringeren Grad von Leidenschaftlichkeit unterschieden, so dass Freundschaft eine zahmere Liebe wäre, die allenfalls auch eine Teilung des geliebten Gegenstandes ertrüge, sondern nur darin liegt der Unterschied, dass Liebe nach einer Hingabe *mit Leib und Seele* trachtet, Freundschaft nur unter gleichen Geschlechtern besteht. Im Übrigen ist sie ganz so eigensinnig und unzurechnungsfähig beim Ergreifen ihres Gegenstandes, wie die verliebte Liebe selbst, ebenso ausschließlich, so eifersüchtig, so völlig unbekümmert, ob ihr Gegenstand gut oder böse sei. Nur dass im letzteren Falle Freundschaft ebenso sehr wie Liebe, die sich an einen Unwürdigen gefesselt fühlt, zu einem traurigen Verhängnis wird, wovon freilich die schönen Seelen, die bei der „Wahl” ihrer Freunde auf einen guten Charakter und reine Sitten sehen, nicht die leiseste Ahnung haben! Sie schwieg hierauf wieder eine ganze Weile. Es war so still im Zimmer, dass ich die Atemzüge vernehmen konnte, die sich nach dem gewaltsamen Ausbruch ihres Inneren nur langsam beruhigten. Keinen Augenblick war ich im Zweifel darüber, dass diese im Munde einer Frau doppelt seltsam klingende schroffe Doktrin einer eigenen schweren Lebenserfahrung entsprungen sei. Da ich aber sah, wie tief die Erinnerung sie aufregte, wagte ich nicht weiter zu forschen. Und obwohl es mir auf der Zunge schwebte zu sagen, dies alles sei nur insofern wahr, als man etwa auch die Art und Eigenheit einer Pflanze in ihrer höchsten Blüte finde, während sie doch auch auf allen Stufen ihrer Entwicklung schon dieselbe Pflanze sei, hütete ich mich doch, die wundersame Stimmung, in die meine alte Freundin versunken war, mit klügelnden Einwürfen zu stören. Sie aber, als hatte sie in meine verschwiegenen Gedanken hineingehorcht, sagte auf einmal mit ganz veränderter Stimme, sanft und heiter, wie nach einem überstandenen Sturm: Sie haben Recht, wenn Sie sich wundern, dass ich so alt geworden bin und noch immer alles auf die Spitze treibe. Man hat mir das schon in meinen jüngsten Jahren vorgeworfen und mich getröstet, mit der Zeit werde sich's geben. Die Zeit hat auch mir Vieles gebracht und genommen — über gewisse Axiome meines Herzens hat sie keine Gewalt gehabt. Noch heut, wenn ich an die einzige Freundin meines Lebens zurückdenke, — was werden Sie sagen, lieber Freund, wenn ich Ihnen gestehe, dass ich von allen Menschen, die der Tod mir genommen, keinen einzigen lieber auferweckte als dieses ewig unvergessene und unverschmerzte Wesen, das gar kein Ausbund trefflicher Eigenschaften war und mir viel Herzeleid gemacht hat? Werden Sie nicht an mir selbst irre werden, wenn Sie hören, dass die, die ich am leidenschaftlichsten geliebt und betrauert habe, eine schlechte Tochter war, eine schlechte Mutter, eine bestrafte Diebin, eine zügellose Landstreicherin, ja etwas Schlimmeres, — das Schlimmste, was ein Weib werden kann und was ihr von ihrem eigenen Geschlecht am bittersten verdacht zu werden pflegt? Setzen Sie sich dort auf den Stuhl meiner Camilla. Sie müssen diese Geschichte hören; wenn Sie Ihnen missfällt, nehmen Sie es hin als Buße dafür, dass Sie mir eine Abhandlung über die Freundschaft empfohlen haben, in der von all diesen Abgründen des Menschenherzens auch nicht das leiseste Wort zu lesen ist. * Sie wissen, dass ich nicht gerade eine glückliche Jugend gehabt habe: unschön, frühreif, von nachdenklicher Gemütsart, die alles viel zu schwer nahm und mich in den Augen der Menschen, welche Kinder als lebendige Spielsachen betrachten, nicht eben liebenswürdig erscheinen ließ. Und so verschloss ich mich früh in mir selbst und gelangte halb zu einer vorzeitigen, altklugen Resignation, in der ich mich endlich fast behaglich fühlte, zumal ich wohl bemerkte, dass ich dadurch über gewisse Täuschungen und kindische Leiden hinausgehoben wurde, die der ganz naiven, in den Tag hineinlachenden Jugend nicht erspart bleiben. Ich war fünfzehn Jahre und eben eingesegnet worden, als ein alter Oheim meiner Mutter starb und ihr ein Landhaus vermachte, von dem wir bisher viel hatten reden hören, ohne es je zu betreten. Der alte Herr hatte dort ganz zurückgezogen die letzten Jahre seines Lebens zugebracht; es war seine Marotte gewesen, aus diesem kahlen Stück Land etwas zu machen, was er als seine eigenste Schöpfung, einen Triumph der Kunst über die Natur betrachten durfte. Doch immer noch war ihm sein Park nicht ansehnlich genug erschienen, im Garten fehlte es immer noch an dem und jenem, womit er die Freunde, die ihn wegen seines Eigensinns verspottet hatten, überraschen wollte, und so überraschte ihn endlich der Tod, ehe er das seit Jahren verheißene Fest der Einweihung hatte veranstalten können. Seine Nächsten betraten den großen Gartensaal erst, als der Sarg des Besitzers unter den schönsten Gewächsen des Treibhauses darin aufgebahrt war. Nach der Beerdigung, die auf dem ärmlichen Kirchhof des nahen Dorfes stattfand, blieben nur meine Eltern und ich in den verödeten Räumen zurück. Es war zu Ende April, die Witterung noch nicht zu einem längeren Landaufenthalt verlockend. Sie wollten nur von dem ererbten Gut Besitz ergreifen und für ein späteres Wiederkommen allerlei Anordnungen treffen. Als ich zum ersten Mal allein durch den Garten schlenderte, den nach allen Seiten hohe Heckenwände gegen das umliegende flache und unbewaldete Land abgrenzten, bemerkte ich an einer Stelle, wo die Sträucher noch kein Laub angesetzt hatten, ein hohes Stacket, das unseren Grund und Boden gegen jedes Eindringen von außen schützte. Ich trat ohne sonderliche Neugier näher und spähte durch die schlanken Stämmchen, aus denen der Zaun zusammengefügt war, auf das nachbarliche Gebiet hinaus. Es gehörte, wie ich wusste, einem Handelsgärtner, der sich klugerweise hier angesiedelt hatte, weil die Lage neben dem herrschaftlichen Besitztum allerlei Vorteile, besonders in wasserarmen Sommern, versprach. Denn der Onkel war ein guter Mann gewesen und hatte von seinem Überfluss gern seinen Nebenmenschen zugutekommen lassen. Der lange, schmale Streifen Landes, in Gemüsebeete abgeteilt und hie und da mit Fluchtbäumen bepflanzt, sah in dieser Jahreszeit durstig genug aus, und das Häuschen vollends, das am Ende des Grundstückes unter einem schweren grauen Strohdach fast in den Erdboden zu versinken schien, machte den Eindruck großer Verwahrlosung. Ich wollte mich darum schon wieder abwenden, als eine Mädchengestalt, die eifrig mit dem Umgraben eines Beetes beschäftigt war, auf einmal sich aufrichtete und den Kopf nach mir umwandte. Unter dem zerrissenen, durch manchen Regenguss unförmlich gewordenen Strohhut sahen mich zwei Augen an, die bei dem ersten Blick eine sonderbare Gewalt über mich ausübten. Das übrige Gesicht konnte ich bei meiner Kurzsichtigkeit nicht sogleich unterscheiden. Ich sah aber, dass die junge Gärtnerin aufs Armseligste gekleidet war. Trotz des rauen Aprilwindes trug sie nur ein ärmelloses Leibchen und einen gestickten rotwollenen Unterrock, der nur eben über die Knie reichte, die nackten Füße steckten in Pantinen — Sie kennen diesen Ausdruck für die groben Lederschuhe mit Holzsohlen, die bei uns in der Mark getragen werden, — ihre Arme waren bis über die Ellbogen bloß. Und doch war Etwas in der schlanken, rüstigen Gestalt, was mich fesselte und zu einem freundlichen Nicken bewog. Dieses Nicken wurde nicht erwidert; aber da in dem dunklen Gesicht plötzlich etwas schimmerte wie eine Reihe blanker Zähne, merkte ich, dass das Mädchen mich nicht mit feindseligen Augen betrachtete. Einsam und müßig, wie ich war, fühlte ich die größte Lust, mit meiner jungen Nachbarin nähere Bekanntschaft zu machen. Ich winkte ihr daher herablassend zu, dass sie an den Zaun herankommen möchte, worauf sie sich mit dem bloßen Arm den Schweiß von der Stirn wischte, so dass der Hut ihr in den Nacken fiel; darauf warf sie einen forschenden Blick nach dem Häuschen zurück und kam behutsam mit ihren schweren Schuhen zwischen den frisch bepflanzten Beeten zu mir herangestapft. Nun konnte ich sie genauer betrachten und fand sie weit hübscher, als ich aus der Ferne geglaubt, Ihre Farbe war auffallend braun, Haar und Augenbrauen kohlschwarz, aber die funkelnden kleinen Augen von einem ganz hellen Grau, und das Weiße um den Augenstern hatte einen bläulichen Glanz, Ihr Obergesicht mit der schlanken geraden Nase war vollkommen schön, nur die untere Hälfte, wenn sie lachte, verdarb den Eindruck trotz der schönen Zähne, da der Mund dann einen breiten, wilden und sinnlichen Zug bekam, der sofort verschwand, wenn sie im Trotz oder Unwillen die Lippen zusammenpresste. Du bist die Tochter des Gärtners? fragte ich. Sie nickte, indem sie, beide Hände auf den Spaten gestemmt, mir gegenüber stand und mich ruhig vom Kopf bis zu den Füßen musterte. Wie heißest du? Jakobine. Die Mutter nennt mich Jakobe, der Vater „feine Schwarze”; im Dorf heißen sie mich die schwarze Jakobe. Und wie heißest du? Ich hatte mir als junge Aristokratin nichts dabei gedacht, sie zu duzen. dass sie sich aber ebenso unbedenklich dieselbe Freiheit nahm, verletzte mich ein wenig. Doch konnte ich ihrem ruhigen Blick nicht ausweichen und sagte ihr nach einigem Zögern meinen Namen. Wirst du länger hier bleiben? fragte sie weiter. Ich sagte, dass wir für diesmal nur einige Tage uns aufhalten würden, aber später im Jahr wiederzukommen gedächten. Sie schüttelte den Kopf. Warum wollt ihr wiederkommen? sagte sie. Hier ist es nicht schön. Wenn ich in der Stadt lebte, käme ich nie wieder heraus, auch nicht, wenn ich in eurem schönen Haus wohnen könnte. Hier ist es nicht schön! wiederholte sie und stieß den Spaten mit einer verächtlichen Gebärde in den harten Grund. Du bist immer allein? fragte ich, da mich der traurige Ton ihrer Stimme rührte. Hast du keine Geschwister? Gibt es im Dorf keine Mädchen von deinem Alter, mit denen du Freundschaft halten könntest? Wie alt bist du denn? Im Juni werd' ich sechzehn. Geschwister hab ich keine, ich möcht' auch keine haben. Es ist genug, wenn ein Kind im Haus es schlecht hat. Und die im Dorf — Sie rümpfte verächtlich die Lippen. Ihr seltsames Wesen nahm mich mehr und mehr gefangen. Jakobine, sagte ich, ich habe auch keine Geschwister und bin hier ganz allein. Wenn du manchmal ein bißchen Zeit hättest, möchte ich gern mit dir plaudern, du müsstest aber zu mir herüberkommen, denn ich darf nicht allein aus dem Hause oder gar ins freie Feld. Willst du? Ich sah, wie sie überlegte. Ich muss den ganzen Tag arbeiten, sagte sie, und jetzt erst fiel mir auf, welch eine raue Stimme sie hatte. Wenn ich zu früh Feierabend machte, kriegt' ich es mit der Mutter. Sie ist immer froh, wenn sie mich beim Vater verklagen kann, weil der mich — lieber hat als sie. Und er fürchtet sich vor ihr und läßt sich's nicht merken, dass er mir gern was Besseres gönnte. Ja, du — du hast's gut! Aber laß die Zeit nur vergehen; eines Tages — Sie vollendete den Satz nicht, sondern hob den Spaten mit ihrem kräftigen braunen Arm und schleuderte ihn weit von sich. In diesem Augenblick hörte ich eine Weiberstimme vom Hause her rufen: Jakobe! Wo steckst du denn? Bist du schon fertig? — Ich sah nur undeutlich ein kleines Weibchen, das aus der Tür des Gärtnerhauses getreten war und heftig mit den Armen durch die Luft fuhr. Hörst du wohl? sagte das Mädchen, nicht einmal die paar Augenblicke gönnt sie mir. Aber übermorgen ist Sonntag — da komme ich nachmittags zu dir in den Baumgarten (sie meinte den Park) — da, wo die weiße Figur an dem Teiche steht. Aber du — du wirst bis dahin die Schwarze längst vergessen haben. Ich beteuerte ihr, dass ich getreulich auf sie warten würde, und sah noch, wie ein Lächeln über ihr Gesicht flog, das ihr vollends mein Herz gewann. Dann nickte sie mir flüchtig zu, ging ihren Spaten aufzuheben und kehrte langsam zu ihrer Arbeit zurück, ohne der Mutter, die noch eine Weile fortkeifte, ein einziges Wort zu erwidern. * Es wunderte mich selbst, dass diese neue Bekanntschaft mir so wichtig war und dass ich dem Sonntagnachmittag in so ungeduldiger Auslegung entgegensah. Zu Hause sagte ich Niemand von meinem Begegnen mit der schwarzen Jakobe. Nur mit ganz gleichgültiger Miene erkundigte ich mich bei der alten Hausverwalterin nach den Gärtnersleuten. Seit vier Jahren lebten sie auf ihrem Grundstück, wollten aber nicht recht gedeihen. Die Frau sei um einige Jahre älter als der Mann und verbittere ihm das Leben mit ganz grundloser Eifersucht; ja sogar die eigene Tochter misshandle sie, weil sie es nicht ertragen könne, dass dies einzige Kind des Vaters Liebling sei. Das Mädchen wachse wild auf und müsse den Knecht ersetzen, da es keiner auf die Länge in der elenden Wirtschaft bei der schlimmen Frau aushalte. Es sei Schade um die schwarze Jakobe; wenn Etwas an sie gewandt würde, könne eine ganz brave und gescheite Frau aus ihr werden. So aber sei sie zu stolz, mit irgendjemand umzugehen, da sie sich ihres armseligen Aufzuges schäme. Dies alles bestärkte mich nur in meiner Teilnahme für die junge Nachbarin. Als der Sonntag kam, huschte ich gleich nach dem Essen, wo ich sonst Klavier zu spielen pflegte, aus dem Hause und lief mit einem Herzklopfen, als handle sich's um ein viel bedenklicheres Stelldichein, in den einsamen Park hinein nach der Stelle am Weiher, wo eine zopfige Flora unter einer Traueresche stand und eine steinerne Bank, die der Lieblingssitz des toten Oheims gewesen war. Ich entsinne mich noch deutlich, wie gekränkt ich mich fühlte, als ich mich dort ganz allein fand und eine gute Stunde allein bleiben musste. Es schien mir fast meiner unwürdig, dass ich auf das Bauernkind warten sollte, bis es ihm beliebe, sich einzufinden. War es nicht schon fast zu viel der Herablassung, dass ich überhaupt mich so pünktlich eingefunden, statt mich ein wenig kostbar zu machen? Ich nahm mir vor, ziemlich kühl zu tun, wenn sie endlich käme. Aber kaum hörte ich ihren festen, raschen Schritt durch den Laubgang herankommen, so waren alle meine hoffärtigen Vorsätze wie weggeweht, und ich ging ihr mit ungeheuchelter Freude, dass sie endlich doch Wort gehalten, entgegen. Sie hatte ein wenig Toilette gemacht für diesen Besuch, so gut der arme Narr eben konnte. Statt des Strohhutes hatte sie ein rotes Tuch über ihre schwarzen Flechten geknüpft, das in zwei Zipfeln über den Nacken herabfiel. Das schwarze Wollkleidchen, das von keiner kunstfertigen Hand zugeschnitten war, reichte ihr bis an die Knöchel und stand ihr nicht so gut wie ihr verwahrloster Arbeitsanzug. Überdies trug sie statt der Pantinen derbe Lederschuhe, und ich glaube sogar Stümpfe. Doch bemerkte ich trotz alledem erst heute, dass sie sehr schön gewachsen war und über ihr Alter entwickelt. Sie lachte, als sie sah, wie ich sie betrachtete. Das Kleid wird mir schon zu kurz und zu eng, sagte sie. Ich hab' es schon vorm Jahr bekommen, zu meiner Einsegnung, das heißt, ich habe mir's selbst, so gut ich konnte, zurechtschneiden müssen aus einem alten Rock der Frau Sengebusch (so hieß die Haushälterin des Großonkels). Die Frau (sie meinte ihre Mutter) behauptete, mein Sonntagskleid sei gut genug; ich erklärte ihr aber, ich ginge ohne schwarzes Kleid nicht zur Einsegnung; da erbarmte sich die gute Alte und schenkte mir dies, und ich habe vier Nächte aufgesessen, bis ich mir's zurecht gemacht hatte. Der Herr Baron schenkte mir ein Goldstück und ein Gesangbuch. Hiernach bin ich so schnell gewachsen, nun sprenge ich alle Augenblicke eine Naht. Du bist ganz hübsch so, Jakobine, sagte ich. Komm, wir wollen ein wenig spazieren gehen. Erst ein bißchen sitzen, sagte sie. Ich habe mich den ganzen Vormittag abrackern müssen. Das gemeine Wort gab mir einen kleinen Stoß. Ich war immer an ein sehr wohlerzogenes Deutsch gewöhnt worden. Auch späterhin hatte ich noch dann und wann einen leichten Schrecken zu überstehen, wenn sie einen groben Ausdruck brauchte. Es fiel mir umso mehr auf, da sie im Übrigen ihre Worte so geschickt und treffend zu setzen wusste, gar nicht wie die anderen Landkinder dieser Gegend. Das kam daher, dass ihr Vater, ehe er das Gärtnergewerbe ergriff, Schreiber bei einem kleinen Gericht gewesen war und sich einige Bildung angeeignet hatte. Wir setzten uns nun auf die Bank unter die Florastatue, und anfangs wollte keine rechte Unterhaltung aufkommen. Wir musterten uns beide stillschweigend, sie gefiel mir immer mehr, ich hätte gern ihre braune Hand gefasst oder ihr Gesicht gestreichelt, doch hielt mich eine beklommene Schüchternheit zurück. Auch sie war viel weniger dreist als vorgestern hinter dem Zaun. Ihre feierliche Kleidung schien ihr einen gewissen Zwang aufzuerlegen. Sie sah lange eine goldene Kette an, die ich um den Hals trug und an der ein goldenes Kreuzchen hing mit einem roten Stein. Endlich wagte sie, das Kreuzchen anzufassen. Ich möchte dir's gern schenken, Jakobine, sagte ich: aber ich hab' es von einer Patin zur Konfirmation bekommen. Was sollte ich auch damit? erwiderte sie mit einem kurzen Auflachen und zog ihre Hand hastig zurück. Es ist viel zu schön für eine Dorfmagd. Aber weißt du was? Du musst mich nicht Jakobine nennen. Nenne mich lieber „Schwarze” wie mein Vater, das höre ich am liebsten. Und dich will ich „Goldene” nennen. Ich habe aber kein goldgelbes Haar. Das tut nichts. Aber du selbst bist wie von Gold. Und du? Wovon bist du denn, wenn ich von Gold bin? Ich? Ich bin von Kupfer. Am Herd, wenn ich alle Tage dienen muß, werde ich ganz schwarz und rußig. Aber man braucht mich nur ein bißchen zu scheuern und zu putzen, so werde ich blitzblank und kann mich selbst neben dem rarsten Gold sehen lassen. Sie lachte wieder vor sich hin, ihr Lachen bezauberte mich förmlich. dass sie lustig sein konnte, da es ihr doch so kläglich ging, staunte ich als ein Zeichen eines großen und heroischen Gemütes an. Ich sagte es ihr endlich, dass ich sie bewunderte. Sie hörte mir eine Weile zu, scheinbar zerstreut, und beschäftigte sich angelegentlich damit, kleine Kiesel, mit denen der Uferweg bestreut war, mit der Spitze ihres Schuhes ins Wasser zu schleudern. Dann sagte sie auf einmal ganz ruhig: Meinst du wirklich, dass es mir so schlecht geht? Ich bin lange daran gewöhnt, und Anderen geht es nicht besser, und viele Andere haben nicht einmal Haare auf den Zähnen, dass sie sich wehren können, wenn's zu arg wird. Wenn mich die Frau nicht lieb hat, ist's ihr eigener Schade. Ich liebe sie auch nicht, damit sind wir fertig. Wenn ich irgendwo in einem anderen Hause dienen müßt', wär' ich vielleicht noch schlechter daran, und hier hab' ich doch Vater, der 's gut mit mir meint. Ich weiß nicht, wie es dir geht, Goldene; aber wenn du auch reich bist und eine gute Mutter hast, du wirst auch nicht immer vergnügt sein. Jeder hat seinen Packen zu tragen. Ich errötete, da ich daran dachte, wie viel heimliche Nöte ich mit meinem ungebärdigen Herzen und grübelnden Verstande zu bestehen hatte, und wie viel Kummer es mir machte, dass ich mir häßlich vorkam. So antwortete ich ihr ausweichend, ob es ihr denn nicht weh tue, dass sie ihre Mutter nicht lieben könne? Gott habe doch geboten, dass man Vater und Mutter lieben und ehren solle. Ob sie denn nicht an Gott und sein Wort glaube? Gewiss tue sie das, erwiderte sie ganz treuherzig. Aber Gott selbst könne nicht aus schwarz weiß machen, und wenn es damit seine Richtigkeit hatte, dass man seine Feinde lieben solle, müßte von Rechts wegen Gott auch den Teufel lieben. Dabei lachte sie wieder, weil ihr eigener Einfall ihr spaßhaft vorkam. Gleich darauf wurde sie wieder ganz ernst. Siehst du, Goldene, sagte sie, ich bin nicht so dumm wie jede erste beste Bauerndirne, vielleicht weil ich immer allein lebe und, seit ich aus der Schule gekommen bin, gar keinen Umgang mit meinen Kameradinnen mehr gehabt habe. Ich fühle ganz bestimmt, dass ich noch einmal recht glücklich werden kann, wenn ich nur will, wenn ich mich nur nicht unterkriegen lasse. Jeder Mensch kann es, außer ein kranker und schlechter; und dass man arm ist, steht dem Glück nicht im Wege, solange man den Kopf oben behält. Und das will ich, solange ich lebe. Also brauchst du mich gar nicht zu bedauern, und ich beneide dich auch gar nicht, weder um deine goldene Kette, noch um deine schönen Kleider und alles was du hast. Ich find' auch in meinen alten Fetzen ein Glück, wie ich's brauche, und Einen, der es mir verschafft, und vielleicht noch früher als du. Aber nun bin ich ausgeruht, nun wollen wir ein bißchen herumstreifen. Sie sprang auf und zog mich am Arm sich nach. Dann gingen wir, uns an der Hand fassend, durch den ganzen Park und zum Hinterpförtchen hinaus über Feld und Wiesen, die mir heute zum erstenmal gar nicht so kahl und gottverlassen vorkamen wie bisher. Noch heute kann ich mich in die Gefühle zurückträumen, von denen damals mein Herz bis zum Überfließen erfüllt war. Es war die erste leidenschaftliche Empfindung meiner Seele. Was wusst' ich von diesem Mädchen, mit dem ich kaum eine Stunde zusammen gewesen war? Gerade nur genug, um den Eindruck ihres Wesens im Großen und Ganzen zu empfangen; der aber genügte, um mich ihr ganz zu eigen zu machen. Ich hatte nie eine ähnliche Natur kennengelernt, keine von so festem, großem Zuschnitt, so nachdenklich und so unbekümmert, so heiter und energisch zugleich. Ich selbst kam mir mit meiner städtischen Bildung, meinen Künsten und Wissenschaften höchst gering und unwert neben ihr vor und fühlte, dass ich nur durch eine grenzenlose Hingebung mich zu ihr emporheben konnte. Als ich ihr ein paar Worte sagte, die ihr diese meine Stimmung unbeholfen genug verrieten, lachte sie, blieb mitten auf einer frühlingsbunten Wiese stehen und sagte: Du bist nicht recht klug. muss man sich den Kopf darüber zerbrechen, warum man sich gern hat? Was sollte ich dann erst machen, wenn ich darüber nachdenken wollte, was du an der armen Schwarzen findest, dass du so rasch mit ihr gut Freund geworden bist? — Und plötzlich nahm sie meinen Kopf zwischen ihre breiten kräftigen Hände und küßte mich zweimal auf den Mund. Eine liebliche Wärme durchströmte mich, wie ich sie nie vorher empfunden. Dann ließ sie mich los und lachte wieder, aber ich sah, dass sie dabei rot wurde, und dann bückte sie sich nach den Wiesenblumen, von denen sie mir einen kleinen Strauß pflückte. Gesprochen wurde an jenem Tage nicht mehr viel zwischen uns. Mir war ganz feierlich zumute, wie wenn ich fühlte, dass ich einen Bund fürs Leben geschlossen hätte; und auch sie war in allerlei ernsthafte Gedanken vertieft. * In den nächsten Tagen konnten wir uns nur verstohlen sehen. Ich ging oft in den Garten und spähte durch den Zaun, wo ich sie denn auch immer fleißig graben und pflanzen sah, aber nicht mehr als ein Kopfnicken von ihr erhielt. Zweimal glückte es mir, nach der Teestunde noch hinauszuschleichen, und richtig fand ich sie an dem Zaun meiner harrend, was mich sehr glücklich machte. Wir standen dann ein Viertelstündchen wie Pyramus und Thisbe beisammen und tauschten in atemloser Hast allerlei Gedanken und Gefühle aus. Sie war, obwohl es kaum anderthalb Stunden Weges waren, nur vier– oder fünfmal in der Stadt gewesen, wo die Mutter auf den Montags– und Donnerstagsmärkten den Verkauf ihrer Blumen und Gemüse besorgte. Seit sie herangewachsen, versagte man ihr diese kurzen Freuden. „Die Frau” meine, es könne mir schaden, sagte sie mit einem verächtlichen Achselzucken. Desto begieriger war sie, von mir zu hören, wie es dort zugehe, wie man in den prachtvollen großen Häusern lebe, was ich in der langen Winterszeit anfange. Sie selbst sitze dann in der dumpfigen Stube, stricke und nähe und höre die Frau brummen und schelten. — Das macht mir so wenig, wie dem Müller das Brausen der Mühlenflügel. — Auch zu lesen habe sie große Lust. Aber außer der Bibel und ein paar Bänden einer illustrierten Zeitschrift hätten sie keine Bücher. Das nächste Mal brachte ich ihr aus meinem kleinen Vorrat mit, was ich gerade hatte. Ich glaube, sie hat wenig Geschmack daran gefunden, soviel ich mir auf meine kluge Auswahl zugutetat. Wenigstens war von Büchern zwischen uns nie mehr die Rede. Dann kam der Freitag heran, am Sonnabend früh sollten wir reisen. Ich hatte es nicht durchzusetzen vermocht, dass man noch bis zum Montag blieb. Freilich wagte ich nicht zu sagen, was für ein Glück ich gerade von dem Sonntag erwartete. Als ich spät am Abend in den Garten entwischen konnte und sie am Zaun stehen sah, fühlte ich ein solches Herzweh, dass ich zuerst kein Wort hervorbringen konnte. Auch sie war einsilbig. Sie reichte mir durch die Lücke des Stackets etwas in ein Papier Eingewickeltes, das sie mit einem Zwirnsfaden umwunden hatte. Dabei lachte sie leise. Es ist von meinem Haar, sagte sie. Du hast es haben wollen. In der Stadt wirst du es wegwerfen. Was hast du auch daran? Ich griff begierig darnach. Ich selbst gab ihr ein weißes seidenes Tüchlein, das ich gegen den rauen Wind umzubinden pflegte und das ihr in die Augen gestochen hatte. Ich sah, wie sie sich darüber freute. Nur schade, sagte sie, dass ich es unter dem Hemd tragen muß; denn wenn die Frau es sähe, würde es Lärm geben. Also reist ihr wirklich morgen früh? Ich kann dir nicht einmal Lebewohl zuwinken; ich muss schon um fünf ins nächste Dorf, um Setzlinge zu holen, die der Vater dort gekauft hat. Also müssen wir schon heute Abschied nehmen. Bei diesen Worten sah sie sich forschend nach der Hütte um, die ganz dunkel und lautlos am Ende des Gartens lag, und plötzlich klomm sie gelenkig wie eine Katze an dem Zaun empor und schwang sich drüben zu mir hinab, dass ich fast erschrak, als sie plötzlich mich mit ihren nackten Armen umfasste und herzlich auf die Lippen küsste. Vergiss mich nicht, Goldene! sagte sie. Ich weiß, du wirst es nicht tun, du bist gut. Und ich wünsche dir — nein, ich wünsche dir nichts. Jeder weiß allein am besten, was er sich wünschen soll. Und komme wieder, wenn der Wald erst grün ist und unsere Rosen blühen. Bis dahin werde ich's wohl noch aushalten. Wieder drückte sie mich so fest an sich, dass ich kein Wort erwidern konnte. Dann schwang sie sich ebenso behende über das Stacket zurück, nur dass ihr Röckchen hängenblieb und einen langen Schlitz bekam. Darüber hörte ich sie noch lachen, dann flog sie davon wie ein Pfeil, und ich stand noch eine ganze Weile, das Päckchen mit den Haaren in der Hand, ordentlich sentimental; ich glaube gar, ich habe verweinte Augen gehabt, als ich ins Haus zurückkehrte. Doch merkte niemand, dass mir etwas Absonderliches begegnet war, und auch in den nächsten Monaten, die ich in der Stadt zubrachte, hütete ich mein Geheimnis so sorgfältig wie das einer verbotenen Liebe. Ich verglich im Stillen meine übrigen sogenannten Freundinnen mit diesem armen Mädchen und fand, dass sie alle von ihr in Schatten gestellt wurden. Was waren alle anerzogenen konventionellen Liebenswürdigkeiten, alle Tugenden und Talente unserer Treibhauskultur gegen den frischen Duft und Hauch dieser wildaufgewachsenen Feldblume? Ich hatte oft eine so heftige Sehnsucht nach meiner geliebten Schwarzen, dass ich Tag und Nacht von ihr träumte, oft so lebhaft, als hörte ich ihr Lachen dicht an meinem Ohr und fühlte den Druck ihrer warmen Lippen auf den meinen. Das einzige Linderungsmittel, wenn man entbehrt, was man liebt: sich schwarz auf weiß sein Herz auszuschütten, war mir auch versagt. Einmal, gleich in der ersten Woche hatte ich ihr geschrieben. Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam, über deren Anblick ich mich unsinnig freute, trotz des groben Papiers, der unbeholfenen Schrift und einer seltsamen Orthographie. Doch war jedes Wort ihr so ganz ähnlich, klar und fest, und dazwischen allerlei lustige Einfälle, auch die Versicherung, dass sie oft an mich denke und mir sehr gut sei, so dass ich überglücklich war und den Brief in das Kästchen verschloss, wo ich meine kleinen Schmucksachen verwahrte. Zum Schluß aber hatte sie mich leider gebeten, ihr nicht mehr zu schreiben; es mache Aufsehen, wenn sie einen Brief bekomme, und „die Frau” habe diesen ersten durchaus zu lesen verlangt, was sie aber um keinen Preis zugegeben hätte. Sie möge immerhin glauben, der Brief komme von einem heimlichen Schatz; es sei auch gar nicht so weit davon, da ihre „Goldene” ihn geschrieben habe. Nun verging die nächste Zeit freilich langsam genug für meine Ungeduld; endlich aber, zu Anfang des September, kam der Tag des Wiedersehens, und als unser Wagen vor dem Landhaus hielt, sah ich unter der herbeigelaufenen Dorfbevölkerung auch das rote Kopftuch meiner Freundin, das sich aber sofort wieder zurückzog, nachdem wir nur einen zärtlichen Augenwink miteinander getauscht hatten. Erst am dunklen Abend fanden wir uns zusammen, diesmal nicht durch den Zaun getrennt, sondern auf der Bank am Weiher. Ich hatte so viel für sie auf dem Herzen, dass ich sie kaum zu Worte kommen ließ. Sie ließ mich reden, lachte nur dann und wann und sagte, ich sei nicht recht klug, dass ich so viel Wesens von ihr mache. Sie selbst hatte in ihrem eintönigen Tagewerk nicht viel erlebt, nicht einmal die Bücher angesehen, die ich ihr zurückgelassen. Auch die vielen kleinen Geschenke, die ich ihr mitgebracht, nahm sie kühler an, als ich mir vorgestellt, da ich sie alle sorgfältig daraus berechnet hatte, dass sie sie brauchen und hübsch finden konnte. Sie war überhaupt, obwohl herzlich und sogar zärtlich zu mir, doch ein wenig verändert: noch gewachsen über den Sommer und voller geworden, und auch in ihrer Stimmung ernsthafter und sozusagen gereifter als damals. Als ich es ihr sagte, wollte sie nichts davon wissen. Ich hatte aber feine Ohren und hörte sie ein paarmal einen Seufzer unterdrücken, was mir genug zu denken gab. Als ich am Abend zu Bette ging und die gute Frau Sengebusch mir in mein Schlafzimmer leuchtete, fragte ich sie so ganz obenhin, wie es denn bei unseren Nachbarsleuten stehe, ob die Gärtnersfrau ihrer Tochter noch immer das Leben sauer mache und ob keine Aussicht sei, dass das arme Mädchen einen Mann bekomme, der sie aus dieser Sklaverei erlöse. — Daran sei weniger zu denken als je, sagte die Alte. Es gehe mit den Martinschen eher zurück als vorwärts; der Mann habe sich beim Pfropfen eines Baumes in die Hand geschnitten, und die Wunde sei bösartig geworden, so dass er noch immer nicht recht sein Geschäft betreiben könne. Darum würde er die Tochter nicht hergeben, auch wenn einer um sie freien wollte. Zum Glück sei gerade in der schlimmsten Zeit, wie der Doktor davon sprach, man werde am Ende die Hand abnehmen müssen, eine Hilfe gekommen, ein junger Bursch aus dem Thüringischen, eine Art Strolch und Tagedieb, der auf den Dörfern herumgestreunt und auf einer großen Ziehharmonika gespielt habe. Der habe auch vor dem Gärtnerhaus zu musizieren angefangen, und da sei die Martinsche herausgekommen und habe ihn weggescholten: er solle lieber ehrliche Arbeit tun, als wie ein Zigeuner herumlungern. Da habe der Bursch gelacht und gesagt: er möchte wohl arbeiten, wenn er nur wüsste, was und wo. Der Mann aber, wie er das gehört, sei herausgeschlichen in seinem Fieber und habe gesagt: wenn das sein Ernst sei, Arbeit wolle er ihm wohl anweisen. Da sei der halbe Garten noch umzurajohlen und die neuen Pflanzungen zu machen für das Sommergemüse, und wenn er auch kein gelernter Gärtner sei, nur anstellig und fleißig, werde er sich schon einarbeiten. Dagegen habe die Frau sich erst sehr ungebärdig gestellt wegen des Tagelohns und gesagt, das faule Ding, die Jakobe, werde es schon allein zwingen. Der Mann aber sei diesmal fest geblieben, und seitdem hätten sie den Hannickel, wie der Thüringer genannt werde, als ihren Gehilfen, und er lasse sich recht ordentlich an, und wenn Feierabend sei, spiele er ganz munter seine lustigen Lieder und Tänze, und alle im Dorf möchten ihn gut leiden. Und die Jakobe? fragte ich. O, die ist ein braves Mädchen, die sieht gar nicht nach ihm hin, die arbeitet jetzt für zwei, als ob sie zeigen wollte, dass der hergelaufene fremde Geselle eigentlich doch überflüssig sei. Und dann hält auch die Mutter sie noch schärfer im Auge, und der Hannickel geht jeden Abend ins Dorf in seine Schlafstelle, und niemand kann ihm was nachsagen. So erzählte die Frau Sengebusch, und ich weiß nicht, warum mir die Sache trotz alledem nicht recht gefallen wollte. Am nächsten Tage machte ich mir an dem Stacket zu schaffen, obwohl ich meine Schwarze dort nicht erwartete, und sah auch bald den fremden Burschen, der ganz ehrbar und eifrig bei seiner Arbeit war und nicht einmal zu mir hinüberschielte. Er war nicht viel über Mittelgröße und, soweit ich mit meinen blöden Augen erkennen konnte, ein wohlgewachsener junger Mensch, der einen kleinen kraushaarigen Kopf aus breiten Schultern trug. Ein verregnetes schwarzes Hütchen mit einer Krähenfeder trug er auf dem linken Ohr, hatte eine verschossene Sammetjacke an mit bleiernen Knöpfen, ein kurzes Pfeifchen hing ihm zwischen den Zähnen. Dabei schleppte er die schweren Gießkannen so leicht, dass ihm noch Atem blieb, einen Ländler zu pfeifen. Meine Schwarze trat gerade aus dem Hause und brachte ihm sein Frühstück. Sie stellte es auf eine umgestürzte, Karre, die in dem breiten Mittelweg lag, und rief ihm, dass er kommen solle. Er sah gar nicht nach ihr um, hörte auch nicht auf zu pfeifen und nickte nur vor sich hin mit dem Kopfe. Sie blieb stehen, als ob sie ihn noch einmal anrufen wollte, dann wendete sie sich kurz ab und ergriff eine Harke, um auf dem nächsten Beet zu arbeiten. Mich sah sie nicht, da ich mich hinter die Hecke geduckt hatte. Mir klopfte aber das Herz, als wäre ich einem gefährlichen Geheimnis auf der Spur. Und da ich noch eine Viertelstunde durch den Zaun gesehen hatte, ohne etwas Bedenkliches zu entdecken, beschloß ich, am Abend meine Freundin geradezu zu befragen. Wonach aber eigentlich? Ob sie ein heimliches Einverständnis mit dem Landstreicher, dem Knecht ihres Vaters habe? Das schien mir doch selbst zu abenteuerlich, um es für möglich zu halten. Woher kam mir nur der Verdacht, dass der fremde Mensch und die Seufzer meiner Schwarzen irgendetwas mit einander zu schaffen hätten? Auch lachte sie mir frei ins Gesicht, als ich wirklich Abends hinter dem Stacket damit herauskam: sie möchte sich vor dem fremden Gesellen in Acht nehmen; es sei etwas in seinem Wesen, das mir unheimlich vorkomme. — Du hast ihn noch nicht spielen hören, Goldene, erwiderte sie. Dann würdest du nichts Schlimmes von ihm denken. Böse Menschen haben keine Lieder. Warte nur bis morgen Abend, da soll er seine Harmonika mitbringen auf die Wiese hinter eurem Baumgarten. Du wirst dann schon anders von ihm reden. Das geschah denn auch, und wirklich, obwohl ich zu musikalisch war, um die scharfen, unreinen Töne dieses Instruments nicht zu verabscheuen, — die Art, wie er es behandelte, war so eigen, so leidenschaftlich und verwogen, dazwischen manchmal — Gott weiß, wie er es fertigbrachte! — so einschmeichelnd sanft und elegisch, dass ich es meiner Freundin nicht ableugnen konnte, er verstehe seine Kunst meisterlich. Ich hatte sie während des Konzertes, das sonst kein weiteres Publikum hatte, gespannt beobachtet. Die Augen hatte sie halb zugedrückt, ihre Brust atmete schwer, und die Flügel ihrer kräftigen Nase zitterten. Das gefiel mir gar nicht. Schwarze, sagte ich, glaub mir, du tätest besser, ihm nicht oft zuzuhören. Er spielt dich um deine Seele. Meine Seele ist mein, sagte sie sehr heftig und wandte sich von mir ab. Wenn ich die verspielen wollte, sollte mich niemand daran hindern. Aber es hat keine Gefahr, er denkt gar nicht an mich; und ich — ich denke an niemand auf der Welt als an meinen Vater und an dich, Goldene. Sie nahm meinen Arm und zog mich, ohne dem immer noch Fortspielenden eine Gutenacht zuzurufen, von der Parktür weg in die nächtlichen Laubgänge. Plötzlich stand sie still. Horch, sagte sie, das ist sein Leibstück! Es ist wirklich, wie du sagst: der Böse steckt in seinem Spiel. Weißt du was? Du musst dich jetzt in der Stube hinsetzen und auf dem Klavier mir was vorspielen. Willst du das? Willst du den Teufel beschwören, Goldene? Sie lachte und küßte mich, und wir liefen dem Hause zu. Ich setzte mich wirklich an den Flügel und spielte das schönste, sanfteste Adagio, das ich auswendig wusste. Als ich fertig war und an das Parterrefenster trat, vor dem sie gestanden hatte, und fragen wollte, ob die Teufelsbeschwörung gelungen sei, war sie verschwunden. * Wir blieben vier Wochen draußen, und wenn ich an diese Zeit zurückdenke, ist mir nichts davon lebendig geblieben, als das allabendliche verstohlene Geplauder mit meiner Schwarzen. Was die Tage sonst brachten, war mir völlig gleichgültig. Aus unseren Unterhaltungen könnte ich noch manches wörtlich wiederholen; ja, der Ton, womit sie es sagte, klingt mir noch heute im Ohr. Ihnen würde manches sehr kindisch und unbedeutend erscheinen. Mir, da ich sie liebte, hatte es einen unvergleichlichen Reiz und Wert. Von dem Hannickel war nie mehr zwischen uns die Rede. Da sie sich immer in der gleichmütigsten Laune zeigte, nur ihre Stirn finster zusammenzog, wenn sie von „der Frau” wieder etwas Unholdes zu berichten hatte, übrigens aber ihr altes Lachen so übermütig wie je erschallen ließ, war mir aller Argwohn vergangen. Als wir uns endlich trennen mussten, gelobten wir uns aufs Neue ewige Lieb' und Treue. Sie freilich sah mich plötzlich scheu und düster an. Du wirst mich doch nicht immer gern haben, du wirst's nicht können! — Warum nicht? — Weil du die Goldene bist und ich — wer weiß, wie viel schwärzer ich noch werde! — Ich drang in sie, mir zu sagen, was sie von sich selber fürchte. Da lachte sie wieder und sagte, indem ihre hellen Augen blitzten: Wenn ich auch weiß bliebe wie Schnee, die Leute würden schon dafür sorgen, mich bei dir anzuschwärzen. Aber glaube nur, für dich bin ich immer dieselbe. Sie fiel mir dabei um den Hals und küßte mich so heftig, dass ich fast zu ersticken glaubte. Dann war sie auf und davon, ehe ich noch ein letztes Wort hervorbringen konnte. Wieder erlebte ich's, dass ich in der Stadt die Trennung von ihr nur schwer ertrug. Zu Weihnachten schickte ich ihr allerlei hübsche Sachen, die sie gut brauchen und mit denen sie ein bisschen Staat machen konnte. Ich hatte meine Mutter soweit eingeweiht, dass sie diese Christbescherung an ein armes Bauernmädchen, das zu Hause hart gehalten wurde, ganz in der Ordnung fand. Der Dank ließ lange auf sich warten und fiel gar nicht so aus, wie ich erwartet hatte. Ich würde es noch bereuen, schrieb sie, so viel an sie gewendet zu haben. Ich solle ihr nie wieder etwas schenken, sie brauche nichts, schöne Kleider könnten ihr nicht helfen; je schöner sie seien, desto schwerer sei ihr Herz. Nur dass ich immer gut von meiner Schwarzen denken möchte, wie es auch komme, darum bat sie immer wieder. Ein Brief, der mir nicht ganz geheuer schien. Ich beantwortete ihn durch eine lange, sehr warme, aber sehr weise Epistel, die ich mit meiner überlegenen Weltkenntnis ihr schuldig zu sein glaubte. Ich bat sie, mir ja alles anzuvertrauen, was ihr irgend das Heiz beschwere, und versprach das tiefste Stillschweigen. Auf diesen Brief kam keine Antwort. Ich wusste, wie mühsam sie die Feder handhabte, dennoch blieb mir ihr Schweigen unheimlich. Nun können Sie denken, wie froh ich war, als der Arzt, da ich im Winter ein wenig viel getanzt und eine bleichsüchtige Miene hatte, meinen Eltern riet, mich früher als sonst aufs Land zu bringen. Mein Vater konnte nicht sogleich seine Geschäfte im Stich lassen; die Mutter aber war bereit, und so wurde nur die erste Baumblüte abgewartet, bis wir in den Wagen stiegen und die Fahrt nach Liebenwalde antraten. Sie dauerte nicht viel über eine Stunde, aber ich meinte, der Weg nähme kein Ende, so wunderlich bange und ahnungsvoll war mir zumute. Als wir ankamen und nur von einigen Dorfkindern und alten Weibern empfangen wurden, bekam ich einen heftigen Schreck. Ich brauchte auch nicht lange zu warten, bis meine Ahnung bestätigt wurde. Denn gleich in den ersten zehn Minuten, während die Hausverwalterin der Mutter beim Auspacken half, erzählte sie ihr unter anderen Neuigkeiten, dass die schwarze Jakobe vor acht Tagen mit dem Hannickel davongegangen und alle Nachforschungen bisher erfolglos geblieben seien. Sie selbst habe es freilich schon seit Weihnachten kommen sehen, auch die Gärtnersfrau gewarnt. Denn die heimliche Liebschaft habe die Tochter noch lässiger und trotziger gemacht, als sie ohnehin schon war, und alles Schelten und Schimpfen der Mutter habe sie so gleichgültig abgeschüttelt wie den ersten Schnee, wenn man eine warme Jacke am Leibe hat. Das aber habe nun gerade das böse Weib so in Wut gebracht, dass sie sich eines Abends, als die Tochter mitten unter ihrem Toben und Keifen ruhig zu Bette gehen wollte, soweit vergessen habe, ihr mit der Faust einen Schlag ins Gesicht zu geben, dass ihr das Blut aus der Nase gespritzt und das eine Auge dick angeschwollen. sei. Die Jakobe habe nichts gesagt als — Das verzeih' dir Gott, Mutter! — Dann sei sie an den Brunnen hinausgegangen, sich das Gesicht zu waschen, und hernach in den Ziegenstall, wo sie sich eingeriegelt habe. Auch aus alles Klopfen und Bitten des Vaters, dessen Herzblatt sie gewesen, habe sie mit keinem Mucks geantwortet, dass der gute Mann endlich betrübt zu Bett gegangen sei. Am anderen Morgen war der Ziegenstall leer und die Kammer im Ort, wo der Hannickel seinen Unterstand hatte, auch; und seitdem war von beiden nichts mehr gehört noch gesehen worden. * Sie können denken, lieber Freund, wie diese Nachricht auf mich wirkte. Ich war so erschüttert, dass ich es vor der Mutter nicht verhehlen konnte, sondern mich mit Tränen in ihre Arme warf. Nach und nach sagte ich ihr einen Teil der Wahrheit, wie sehr mich dies arme verlorene Mädchen seit unserer ersten Bekanntschaft beschäftigt, wie ich keinen herzlicheren Wunsch gehegt hatte, als sie glücklich werden zu sehen. Und nun — welche Aussicht in ein Leben voll Elend — Kummer — Reue und Verzweiflung! Dann wieder sagte ich mir, dass meine Schwarze viel zu fest auf ihren Füßen stand, um selbst durch eine solche Verirrung ganz um sich selbst gebracht zu werden. Ich erkannte, dass ich vielmehr für mich als für sie betrübt und unglücklich war. Die einzige Person, von der ich mich wahrhaft geliebt wusste, um meiner selbst willen, nicht aus irgendeiner Pflicht, wie ich es selbst von meinen guten Eltern glaubte, — die hatte ich nun verloren. dass ich sie hier vermisste, wo ich mich auf einen langen Sommer mit ihr gefreut hatte, war nicht einmal das Bitterste. Dass sie mich nicht vermissen würde, dass sie mit ihrem Geliebten fröhlich und guter Dinge durch die Welt streifen und mich bald völlig vergessen haben würde, das machte mir einen heftigen eifersüchtigen Schmerz, so dass ich die erste Nacht wirklich keine Stunde Schlaf finden konnte. Auch sah ich am anderen Morgen zum Erschrecken bleich und fieberhaft aus, und als es nach der ersten Woche nicht viel anders mit mir geworden war, fand die Mutter, dass die Luft in Liebenwalde zu dieser Jahreszeit, wo Bruch und Wiese noch feuchte Dünste aushauchten, für ihr blutarmes Kind nicht heilsam sei, und dass wir besser tun würden, auf unser Gut in Schlesien zu reisen, welches dicht am Gebirge lag und überdies in der Nähe eines kleinen Badeortes, dessen Eisenquelle mir gewiss heilsam sein würde. Mich heilte aber sobald nichts von meiner Schwermut. Nur in meiner Musik fand ich das, was man Trost nennt, da ja der wirksamste Trost darin besteht, uns in unserem Kummer zu bestärken, indem man ihm sein Recht einräumt, und uns solange mit ihm zu nähren, bis wir selbst anfangen, uns seiner zu ersättigen. Der Vater holte uns dann ab, wir machten eine schöne Reise durch die Schweiz zusammen. Als wir im Herbst nach Hause kamen, fing die Bewerbung meines künftigen Gatten um mich an, und es dauerte nur wenige Monate, so war ich verlobt, und dann noch wenige Wochen, bis ich eine junge Frau war. Ich habe Ihnen früher einmal gestanden, dass ich, so eifrig ich sonst darauf bedacht war, ein eigenes Leben zu leben und alles Hergebrachte darauf anzusehen, ob es meinen innersten Bedürfnissen entsprach, dennoch ohne wahre Liebe und fast mit innerem Widerstreben in diese Heirat willigte. Jetzt können Sie mir nachfühlen, wie mir damals zumute war. Eine ähnliche leidenschaftliche Empfindung, wie ich sie für dieses Mädchen noch immer in mir trug, glaubte ich nie einem Manne gegenüber fühlen zu können. Noch weniger traute ich mir zu, je an einem Manne eine solche Eroberung zu machen wie an meiner geliebten Schwarzen. In dieser entsagenden Kühle und Trauer fand mich mein Bewerber, und, wie gesagt, es überraschte mich und erwärmte mich fast, dass er mich so vielen weit Ansehnlicheren und Liebenswürdigeren vorzog. Da mein Gefühl für ihn überdies jenes andere, das mich noch ganz beherrschte, in keiner Weise beeinträchtigte, ließ ich mir's gefallen als eine Art Zerstreuung, das Leben einer verheirateten Frau kennenzulernen, so wenig mein Herz dabei zu seinem Rechte kam. Im zweiten Jahre unserer Ehe wurde mir ein Kind beschert. Da zuerst wurde das Verhältnis zu meinem Gatten ein innerlicheres. Ich sollte nicht erleben, dass es vielleicht noch ein beglückendes geworden wäre. Sie wissen, wie bald ich mit meiner kleinen Tochter allein blieb. Nun hatte ich etwas, wofür ich lebte; nun trat auch die fast krankhafte Entbehrung meiner verlorenen Freundin mehr und mehr zurück, und es vergingen Wochen, ohne dass ihr Bild vor mir auftauchte. Mein kleines Mädchen war zwei und ein halbes Jahr alt geworden; es war meine ganze Freude, zumal ich auch die Eltern rasch nach einander verloren hatte. Manchmal kam es mir vor, als würde mein Herz immer unempfindlicher, als setze es wie ein Baum einen harten Jahresring um den anderen an, dass nur im innersten Mark noch der Lebenssaft auf– und niederströmte, die Außenwelt aber kaum noch einen Eindruck darauf hervorbrachte. Und doch war es noch das alte Herz. Ich fuhr eines Nachmittags mit der Kleinen spazieren und passierte beim Rückweg eine Vorstadt, wo der ärmste Teil der Bevölkerung wohnte. Ich hatte den Wagen zurückschlagen lassen, und das Kind sah neugierig umher und ergötzte mich mit seinen drolligen Fragen. Auf einmal erblickte ich unter den Leuten, die an den Häusern entlanggingen, eine Frauengestalt, deren Gang und Haltung mich so lebhaft an die Jugendfreundin erinnerte, dass ich unwillkürlich ihren Namen rief und eine Bewegung machte, den Kutscher halten zu lassen. In demselben Augenblick — sie konnte meinen Ausruf nicht gehört haben — drehte die Person den Kopf zu mir hin, nur auf einen einzigen Blick, wandte ihn dann rasch wieder zur Seite und lief so schnell davon, dass an ein Aufhalten nicht zu denken war. Ich hatte mich nicht getäuscht — sie war es wirklich gewesen. Damals freilich blieben all meine Bemühungen, ihre Spuren wieder aufzufinden, fruchtlos. Als wir uns aber später wiedersahen, gestand sie mir, es sei nicht das erste Mal gewesen, dass sie mir begegnet. Sie habe oft meinen Ausgang abgewartet und sei mir ein paar Straßen weit gefolgt. Mich anzureden oder gar mich zu besuchen, habe sie sich nie ein Herz fassen können, obwohl sie im Grunde nicht habe glauben können, dass ich schlecht von ihr dächte wie alle anderen. Das war im Spätherbst gewesen. Ich war durch diese flüchtige Erscheinung sehr aufgeregt. Soviel ich hatte sehen können, schien sie sich nicht dürftig zu tragen, sondern wie ein Dienstbote in einem guten Hause, nur mit bloßem Kopf, ein kleines Tuch über die schwarzen Flechten geschlungen. Es beruhigte mich ein wenig, dass ich sie nicht in Not denken musste. Aber meine Sehnsucht, einmal wieder ihre Stimme zu hören, war nicht dadurch beschwichtigt. Dazu sollte es nun auch kommen auf die seltsamste Weise. Wenige Tage vor Weihnachten wurde mir ein Brief gebracht, mit Bleistift geschrieben, in einem groben Kuvert. Ich erkannte auf den ersten Blick die steifen, aufrechten Buchstaben meiner Schwarzen und öffnete das Papier mit zitternden Händen. Es enthielt nur wenige Zeilen: die Bitte, nach ihrem kranken Kinde zu sehen, das sie einer armen Frau in Pflege gegeben und in den nächsten fünf Tagen nicht selbst besuchen könne, da ihr das Ausgehen unmöglich sei. Sie wisse bestimmt, ich werde ihr's nicht abschlagen. Was auch inzwischen vorgefallen, sie vertraue fest auf ihre treue und gute „Goldene”. Später werde sie selber kommen, mir zu danken. Die Frau wohne da und da. Ich fuhr sofort nach dem bezeichneten Hause, das in jener Vorstadt lag, wo ich vor acht Wochen die Jakobe an mir vorüberschreiten gesehen. Ich fand ohne Mühe die Wohnung, im vierten Stock eines armseligen Hauses, und die ältliche Frau, die mir öffnete, machte mir gleich einen günstigen Eindruck, dass ich begriff, wie man ihr im Notfall ein Kind anvertrauen konnte. Ehe ich mich noch weiter erklärt hatte, war ich an das Bettchen getreten, wo die kranke Kleine in einem unruhigen Fieberschlaf lag. Es tat mir weh, dass sie nicht die Züge ihrer Mutter trug, sondern dem Hannickel ähnlich sah, obwohl sie an Schönheit dabei nicht verlor. Als ich aber dann meinen Brief hervorzog, schlug die Frau die Hände überm Kopf zusammen, und ihr gutes blasses Gesicht nahm einen feindseligen Ausdruck an. Sie ergoss sich in Klagen und Scheltreden gegen die Jakobe, die bisher doch so ordentlich gewesen sei, und jetzt habe sie sich zum Stehlen verleiten lassen und werde um ihren guten Dienst kommen, und wer würde sie, wenn sie ihre Strafe abgesessen, wieder ins Haus nehmen? Dann fiele das arme Würmchen ihr zur Last, die doch selbst sich nur mit Mühe und Not durchbringen könne, und sie habe es um die Jakobe wahrhaftig nicht verdient — und so ins Unendliche. Ich konnte nicht aus ihr herausbringen, wie es denn nur so weit gekommen, dass die Jakobe sich bis zu einem Diebstahl vergessen habe. Nur dass sie ihr vorgestern aus der Stadtvogtei einen Zettel geschickt, sie müsse sechs Tage sitzen, sie möge die Kleine gut halten und einen Doktor kommen lassen, es werde alles sicher bezahlt werden. Sie sei als ein feineres Hausmädchen bei einem ansehnlichen kinderlosen Ehepaar im Dienst und hatte es gut gehabt, wenn ihr Lohn nicht für die Kleine draufgegangen wäre. Seit dem Frühjahr habe sie ihr das Kind in Pflege gegeben, und solange sei sie auch wieder in der Stadt. Von dem leichtsinnigen Menschen, mit dem sie in die Welt hinausgelaufen, rede sie nie ein Wort. Auch dass sie eine so vornehme Bekanntschaft habe — sie meinte mich damit —, habe sie ihr nie verraten. Ich nahm das kleine Mädchen, das etwa drei Jahre alt sein mochte, aus dem Bett, gab ihm gute Worte und versprach ihm, was es nur haben wollte, wenn es nicht weine und mit mir komme, wo es auch bald seine Mutter wiedersehen sollte. Die Pflegemutter überließ es mir gern. Sie war froh, der Verantwortung überhoben zu sein. So wickelten wir es sorgfältig in warme Tücher und Decken, und ich brachte es in meinem Wagen nach Hause, wo ich sogleich meinen Hausarzt beschickte und es inzwischen in das Bettchen legte, worin meine eigene Kleine schlief. Die musste sich's die nächste Zeit in einem großen Bette gefallen lassen. Als dann der Arzt gekommen war und nur ein starkes Erkältungsfieber konstatiert hatte, ließ es mir keine Ruhe; ich fuhr nach der Stadtvogtei und verschaffte mir, da ich mit einem Polizeirat zufällig bekannt war, ohne große Mühe Einlass in den Saal, wo meine arme Schwarze ihre Strafe verbüßen musste. * Als ich in den niedrigen, durch die kleinen halbverschneiten Fenster nur trübe erhellten Raum eintrat, schlug mir eine schauerliche Luft entgegen, in der zu atmen allein schon eine Strafe sein musste. Acht bis zehn Pritschen mit muffigen Strohsäcken lehnten gegen die kahle Wand, und auf jeder lag oder hockte eine weibliche Gestalt, bei deren Anblick mir so traurig und bang zumut wurde, dass ich unwillkürlich stehenblieb und erst wieder Mut und Atem schöpfen musste, mich weiter in diesen Schlupfwinkel menschlicher Schuld und Misere hineinzuwagen. Aber ehe noch meine blöden Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, erhob sich auf dem zweiten Lager eine Gestalt, die mein Herz sogleich erkannte. Sie trat mir hastig ein paar Schritte entgegen, stand aber plötzlich still und ließ die Hände, die sie mir entgegengestreckt, am Leibe herabsinken. Auch ich war unfähig, mich zu regen. Die neugierigen Blicke des armen Gesindels, die uns beobachteten, und das Geraune und Gezischel, das sich aus allen Winkeln vernehmen ließ, lähmten mir eine Weile jedes Wort und jede Bewegung. Dann überwand ich es doch, trat dicht an sie heran und ergriff ihre Hand. Arme Schwarze, sagte ich, müssen wir uns so wiedersehen? Warum bist du nicht früher zu mir gekommen? Es wäre alles anders geworden und ich fände dich jetzt nicht hier! Da sah sie mich mit einem vollen Blicke an, und das Blut stieg ihr in die Wangen. Aber es war nicht die Röte der Scham, sondern es leuchtete wie ein Freudenfeuer aus ihrem bräunlichen Gesicht, das ein wenig hagerer erschien als vor vier Jahren, aber eher dadurch gewonnen hatte. Ich dachte mir's gleich, dass du kommen würdest, sagte sie, obwohl du eine so vornehme gnädige Frau geworden bist; ich wollte nur nicht geradezu darum bitten. Es freut mich so viel mehr, dass du es von selber getan hast. O, ich bin nun ganz glücklich, und wenn erst mein Kind — es hat deinen Namen, du wirst es nicht übelnehmen — Ich sagte ihr, dass die Kleine bei mir sei und was der Arzt gesagt hatte. Sie drückte verstohlen unter ihrer Schürze meine Hand. Dann sah sie sich um. Komm ans Fenster! flüsterte sie. Die Frauenzimmer sind neugierig wie die Katzen. Da! setz dich auf den Stuhl; ich habe dir was zu sagen. Du siehst gut aus, du hast noch ganz dein altes Gesicht, aber du bist etwas voller geworden und bist immer noch meine Goldene. Ich — ich bin eine arme Närrin und werde es mein Lebtag bleiben. Dabei lachte sie, ganz das alte sorglos trotzige Lachen ihrer jungen Zeit. Wir standen an der Fensterwand, möglichst weit von den anderen entfernt; so kläglich aber alles war, fühlte ich doch wieder den alten Zauber ihrer Nähe und musste sie nur immer ansehen, ob es denn wahr, ob es möglich sei, dass sie etwas getan haben könne, was sie dieser Gesellschaft würdig machte. Sie schien zu erraten, was in mir vorging. Wieder wurde sie rot und lachte zugleich. Ich danke dir tausendmal, sagte sie, dass du das Kind versorgen willst, und vor allem, dass du gekommen bist. Denn mehr noch als um den armen Wurm, der wie seine Mutter ein Unkräutchen ist, das nicht leicht verdirbt, war mir bange drum, du möchtest hören, dass ich gestohlen habe — es kommt ja alles in die Zeitung —, und dann würdest du von deiner Schwarzen nichts mehr wissen wollen. Aber denke nur, wie es zugegangen. Ich hab' mir's ausgemacht bei meiner Herrschaft, die es gut mit mir meint, alle Mittwoch– und Sonnabendnachmittag durft' ich aus ein paar Stunden zu meinem Kind. Vor acht Tagen nun — es war gerade schön Wetter — das Luischen war den ganzen Tag nicht an die Luft gekommen — ich zieh' ihm also sein Mäntelchen an und setz' ihm das Pelzmützchen auf und geh' mit ihm in die Stadt, dass es sich die hellen Läden ein bisschen ansehen soll. Vor einem Spielwarenladen bleibt es stehen und will nicht weiter, und immer zeigt's auf eine große Puppe im Schaufenster, mit langen blonden Locken und einem Seidenkleid, ein Prachtstück. Kind, sag' ich, die ist viel zu schön für uns, die ist nur für eine Prinzess. Aber es läßt sich nicht wegbringen und sagt immer wieder: Mir die Puppe schenken, Mütterchen! — Ich gehe endlich mit ihm in den Laden und kaufe eine ganz niedliche kleine Puppe, die auch wirkliches Haar hat; aber das eigensinnige Ding sieht sie kaum an und starrt immer nur auf die große, bis ich sie endlich auf den Arm nehme und nach Hause bringe. Und auch da, zu der alten Frau, beständig von der Prinzessin im blauen Kleide geschwärmt! In der Nacht aber wird sie krank, sie hatte sich doch erkältet, und wie ich Sonnabend darauf hinkomme, hat sie hochrote Bäckchen und irre Äugelchen und fasst mich mit ihren heißen kleinen Patschchen und sagt immer nur — Mir die große Puppe schenken, Mütterchen! — Das konnt' ich endlich nicht mehr mit anhören, gehe fort und in den Laden, wo wir das Prachtstück gesehen. Wir viel es kosten soll? frag' ich die Ladenmamsell. Fünf Taler! — und holt sie herein aus dem Schaufenster, weil sie meint, ich erkundigte mich im Auftrag einer Herrschaft. Ich hatte bloß noch einen Taler und sag' ihr das und dass mein Kind krank sei, und wenn es die Puppe nicht bekäme, könnt' es schlimmer werden. Der Herr des Geschäfts kommt dazu, ich schlag' ihm vor, ich wollt' ihm den einen Taler auf Abschlag geben und die anderen vier in den nächsten beiden Monaten abzahlen. Er will aber nichts davon hören und wird endlich grob und heißt mich, hier nicht länger herumstehen und reellen Kunden den Platz wegnehmen. Da wurde ich innerlich so wild, dass ich ihm hatte ein Leids antun können, wenn ich mit ihm allein gewesen wäre. Und wie der Laden so voll von Käufern war, dass man sich kaum rühren konnte, benutze ich einen Augenblick, wo ich denke. Niemand sieht's, und ziehe die Puppe sacht vom Ladentisch herunter und unter meinen Mantel und hinaus damit, so flink meine Füße mich tragen wollen. Aber ich war noch nicht bis zur nächsten Querstraße, da hör' ich hinter mir her schreien und rennen, und richtig werde ich gefasst und visitiert, und ich mochte sagen, was ich wollte: den Taler hätt' ich ja auf dem Ladentisch gelassen, und das übrige Geld würd' ich gewiss von meinem Lohn nachzahlen — sie schleppten mich auf die Polizei, und nun muss ich als Diebin hier unter weit ärgeren Missetäterinnen noch volle fünf Tage sitzen und kann nicht einmal meinem Luischen ein Weihnachtsbäumchen anzünden. Indem sie dies sagte, trat der Gefängniswärter wieder herein und winkte mir, dass die Zeit für meinen Besuch verstrichen sei. Ich konnte ihr nur noch zuflüstern, sie solle gutes Mutes sein und, sobald sie frei würde, sich gleich bei mir sehen lassen. Auch an einem Christbaum für ihr Kind werde es nicht fehlen. Dann umarmte ich sie und küßte sie in meiner hellen Freude, dass sie nichts verbrochen, was sie in meinen Augen herabsetzen konnte, und sah, wie ihr Gesicht glänzte von stillem Triumph über den Neid und das Staunen des Gesindels um sie her, da eine vornehme Frau sich so schwesterlich zu ihr betrug. Ich aber machte, dass ich aus dem eklen Dunst und Brodem hinauskam, und sorgte bei dem Wärter dafür, dass sie heimlich besser gehalten wurde als die anderen, und so kam ich sehr vergnügt zu den beiden kleinen Mädchen zurück, die inzwischen gute Freundinnen geworden waren. Dies war der Tag vor Heiligabend, Am 28sten, abends ganz spät, kam das arme Weib scheu und verstört zu mir ins Zimmer, lief auf das Luischen zu, das nun doch mit der großen Prinzessinnenpuppe spielte und ganz genesen war, fiel dann vor mir nieder und brach in heftiges Schluchzen aus, das ihr offenbar das Herz erleichterte. Ich versuchte umsonst, sie aufzuheben und neben mich zu setzen, sie wehrte mich leidenschaftlich ab. Wie ihre Tränen dann zu fließen aufhörten, sah ich einen Ausdruck in ihren Zügen, der mich erschreckte, ganz hart und bitter und trotzig-wild. Schwarze, sagt' ich, was hast du? Wirf alles hinter dich! Nun fangen wir von vorn an, als fänden wir uns erst jetzt, zwei einsame, junge Witwen mit zwei lieben Kindern, und du gehst nie mehr von mir! — Aber sie schüttelte den Kopf, Es geht nicht! sagte sie mit ihrer rauesten Stimme. Nein, es geht gewiss und wahrhaftig nicht. Was du auch sagen magst, ich weiß, wie die Welt ist, und dass ich dir Schande machen würde. Und dann, ich muss mir selbst durchhelfen, muss arbeiten, dass ich nicht zur Besinnung komme über mich selbst und — alles. Halt mich nicht auf! Dass du das an dem Kind getan und an mir, werd' ich dir nie vergessen, obwohl mich nichts von dir wundert. Nun aber siehst du wohl, hier in der Stadt kann ich nicht bleiben, ich habe doch einmal gesessen, wer wird mich in Dienst nehmen? Ich will in einen kleineren Ort, wo man mich nicht kennt; ich habe Geschick zu vielem und bin jung und gesund, und ich *will* nicht unglücklich werden, Goldene! ich *will* nicht und brauch' es auch nicht, und unser Herrgott scheint es auch nicht zu wollen, da er mir meine Goldene noch gelassen hat! Damit wurde ihr Gesicht wieder milde und menschlich, ja sie lachte wieder und hatte für eine kurze Zeit ihr ganzes Schicksal vergessen. Ich musste ihr meine Wohnung zeigen, all meine Sachen, vor allem mein Kind, das sie aufs Lieblichste herzte und liebkoste, auch das Bild meines verstorbenen Mannes. Darüber aber sagte sie kein Wort, und auch von dem Vater ihres Luischens war nicht zwischen uns die Rede. Hernach, als wir ein wenig zu Nacht aßen, zog sie plötzlich das weißseidene Tüchlein hervor, das sie auf ihrer bloßen Brust trug, und sagte: Kennst du es noch, Goldene? Ich habe es an allen Sonntagen getragen und so darauf Acht gegeben, dass es noch unzerrissen ist, freilich jetzt nur noch wie ein Spinneweb. — Ich wollte ihr ein neues schenken, aber sie nahm nichts an. Ebenso wenig wollte sie davon hören, mit einer Summe, die ich ihr anbot und die sie später einmal hätte zurückzahlen können, ein kleines Geschäft anzufangen. Du bist reich und ich bin arm, sagte sie, und doch fühle ich mich zu dir wie gleich zu gleich. Das aber könnt' ich nicht, wenn ich deine Schuldnerin wäre, anders als durch deinen Schatz von Lieb' und Treue. Und darum lass es dabei! Du machst mich nicht anderen Sinnes. So musst' ich mich ergeben. Diese Nacht blieb sie bei mir, sie schlief auf einem Sofa, neben das sie das Bett ihres Luischens gestellt hatte. Das Wiedersehen und all unser Geplauder hatte mich so aufgeregt, dass ich erst gegen Morgen einschlief. Wie ich dann erwachte, war sie längst aufgestanden, hatte ihr Kind in ein Tuch gewickelt und sich mit ihm fortgeschlichen, es heftig untersagend, dass man mich weckte. Ich fuhr sogleich in die Wohnung der Pflegemutter. Auch da war sie nur erschienen, um die paar Siebensachen des Luischens zusammenzuraffen. Wohin sie sich wenden wollte, hatte sie nicht verraten. * Also hatte ich sie wieder einmal verloren. Es machte mir umso mehr Kummer, als ich der festen Überzeugung war, es werde ihr nicht glücken, wieder emporzukommen, und ich allein wäre im Stande gewesen, ihr ein leidliches Loos zu bereiten. Die Hauptsache aber war, dass ich sie noch so herzlich liebte wie in meiner Backfischzeit und alles daran gesetzt hätte, sie bei mir zu behalten, zumal jetzt, da ich mich einsam fühlte und noch nicht entschließen konnte, wieder mitzumachen, was in meinen Kreisen als gesellige Pflicht betrachtet wurde. Nun denken Sie, wie unerhört es mich überraschte, als zu Anfang des Sommers, da ich eines Sonntagsnachmittags mit meinem Kinde ausgefahren war und dann im Tiergarten ausstieg, um uns etwas Bewegung zu machen, das Kind plötzlich von mir weg auf ein anderes kleines Mädchen zulief, das neben einer Bank mit einem Handwägelchen spielte. Auf der Bank aber saß ein stattlicher, blondbärtiger Mann in Uniform und neben ihm, ganz solide wie eine junge Bürgersfrau angezogen, meine Schwarze. Sie wurde dunkelrot, als sie uns erblickte, stand auf und flüsterte ihrem Begleiter ein Wort ins Ohr, woraus auch der sich kerzengerade von der Bank erhob und salutierend die Hand an die Mütze legte. Meine Jugendfreundin aber trat ganz unbefangen auf mich zu und sagte: Du kommst mir zuvor, Goldene. Ich wollte in diesen Tagen zu dir kommen und dir meinen Mann, den Wachtmeister Krüger, vorstellen. Ja, wundere dich nur, lachte sie, aber er ist mein richtiger Mann. Er kam auf Urlaub nach dem kleinen Nest, wo ich lebte und mich notdürftig mit meiner Hände Arbeit erhielt. Er hatte da eine kleine Erbschaft zu erheben, und wie er mich zufällig sah, verliebte er sich in mich und bestand darauf, mich zu heiraten. Ich, fuhr sie leiser fort mit einer unbeschreiblichen Gebärde, halb Mitleiden, halb Gleichgültigkeit, — lieber Gott! ich hatte gar kein Verlangen danach, Frau Wachtmeisterin zu werden. Er war mir viel zu groß und zu steif und zu blankgeputzt, und sein Gesicht, das sie alle schön finden, kam mir so hölzern vor wie von einem Nussknacker. Aber er hatte einen Narren gefressen an dem Luischen und ist überhaupt ein so guter Mensch; ich glaubte, ich sei es dem Kinde schuldig. Und das denk' ich auch jetzt, so oft mir einfällt, ich hätt' am Ende doch einen dummen Streich gemacht. Sie lachte gezwungen und winkte dann dem Mann, näher zu kommen. Das tat er sehr gravitätisch, und wie er seinen bärtigen Mund öffnete, um mir ein paar Artigkeiten zu sagen, fiel es auch mir auf, wie sehr er einem blanklackierten Nussknacker ähnlich sah. Aber die Herzensgüte leuchtete ihm aus den Augen. Ich fragte scherzend, wie er mit meiner alten Freundin als Ehefrau zufrieden sei, und er erwiderte, sie sei eine gute Frau und folge ihm aufs Wort, und Appell und Subordination seien die Hauptsache, und daran gewöhne sich auch das Luischen immer mehr. Und da sie Gottlob ihr reichliches Auskommen hätten, die freie Wohnung in der Kaserne, und seine Frau geschickt mit der Nadel sei und sich manchen Nebenverdienst mache, so könne er sich kein besseres Leben denken. Dabei sah er seine Frau mit so warmer Zärtlichkeit an, dass ich wohl merkte, die Subordination sei durchaus nicht immer auf ihrer Seite, und sie erriet meine Gedanken und lächelte, und ich sah, wie hübsch sie geblieben war und wie guten Grund er hatte, stolz auf sie zu sein. Dann setzte ich mich noch eine Weile zu ihnen auf die Bank, und als wir uns trennten, musste sie mir versprechen, recht bald zu kommen und das Luischen mitzubringen. Ich wartete aber vergebens. Je mehr ich darüber nachsann, je deutlicher wurde mir, dass sie sich schämte, diese vernünftige Partie gemacht zu haben, und gerade mir gegenüber sich nicht unbefangen zeigen konnte. Ich hätte nun gern meinerseits sie aufgesucht. Aber es widerstrebte mir mehr, zu ihr in die Kaserne zu gehen, als damals in ihr Gefängnis. Zum ersten Mal fühlte ich, dass ein kühler Hauch über mein Herz gekommen war. Ich hätte ihr alles andere zugetraut, als dass sie etwas tat, wozu sie sich nicht mit vollem Herzen getrieben fühlte. Und wirklich hatte ich mich nicht in ihr getäuscht, wenn ich annahm, dass es unmöglich auf die Länge gut gehen könne. Stellen Sie sich vor: eines Nachmittags — ein paar Monate waren wieder vergangen — läßt sich der Wachtmeister Klüger bei mir melden. Ich erschrecke bis ins innerste Herz, als der baumstarke Mensch blass und zitternd, wie wenn er eben aus dem Lazarett käme, in mein Zimmer tritt und sogleich die Frage hervorstottert, ob ich seine Frau nicht gesehen, oder doch wisse, wo sie stecke. Sie sei gestern Abend plötzlich verschwunden, unter dem Vorwand, zu der alten Frau zu gehen, die das Luischen in Kost gehabt, und seitdem nicht wiedergekommen. Ich suchte ihn zu beruhigen, obwohl ich selbst die schwärzesten Befürchtungen hegte, und fragte ihn, ob er irgendetwas Absonderliches die Tage vorher an ihr bemerkt habe. Nicht das Mindeste, versicherte er steif und fest, während seine großen runden Augen ganz sacht überzufließen anfingen. Es habe gar nichts gefehlt an Appell und Subordination, auch habe sie gegessen und getrunken wie sonst. Nur als sie am Abend vorher eine Ziehharmonika auf der Straße gehört habe, sei sie auf einmal still und kopfhängerisch geworden, obwohl es ein ganz flotter Schottischer gewesen sei, und die nächste Nacht habe sie sich immer herumgewälzt und keinen Schlaf gehabt, auch ein Glas Schnaps, das er ihr deshalb angeboten, nicht trinken wollen. Und so sei er früh zum Exerzieren gegangen, und beim Kaffee habe sie ihn noch ganz freundlich angesehen und gesagt: es gehe ihr nun wieder gut, er brauche sich nicht um sie zu ängstigen, und sie danke ihm auch recht herzlich, dass er immer so gut zu ihr und dem Kinde sei, und wenn das Luischen erst groß geworden, werde es ihm gewiss alles vergelten, mehr als manches leibliche Kind. Da habe er sie noch umgefasst und küssen wollen, aber sie habe den Kopf weggebogen und gebeten: jetzt nicht! Sehr zärtlich sei sie überhaupt nie aufgelegt gewesen. Wie er dann nachmittags wieder in die Kaserne gekommen, habe er nur das Luischen gefunden; Mütterchen sei fortgegangen und habe ihr aufgetragen, den Vater zu grüßen. Und dann habe er Stunde um Stunde gewartet — jetzt glaube er, sie werde nie mehr wiederkommen. Der arme Mensch trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn, und wie ich ihn zum Sitzen nötigte, fiel er förmlich auf den Stuhl nieder, wie wenn er seiner Glieder nicht mächtig wäre. Ich riet ihm, noch bis morgen zu warten, eh er's anzeige. Was er von der Ziehharmonika gesagt, verscheuchte meinen ersten Argwohn, sie möchte sich ein Leids angetan haben. Doch war es vielleicht weit schlimmer so. Und richtig, sie kam nicht wieder. Und nach längerer polizeilicher Nachforschung erfuhr der arme betrogene Mensch, dass sie mit ihrem ersten Geliebten irgendwo in Österreich gesehen worden war, wo sie sich Gott weiß wie als fahrende Leute ihr Brot erspielten oder erbettelten. Das Luischen erfuhr nichts davon. Ich ließ es manchmal zu meinem Kinde holen und gelobte mir, Mutterstelle an ihm zu vertreten. Das hatte ich freilich nicht nötig. Der Stiefvater war zärtlicher zu ihm als eine leibliche Mutter, und wenn ich sie zusammen sah, merkte ich, dass schon das Kind anfing, den riesenhaften und tapferen Mann an Subordination unter seinen kindischen Willen zu gewöhnen. * Ich sollte aber nicht lange mehr mein stilles Gelübde, mich um das Luischen zu bekümmern, erfüllen, und auch an die unglückliche Mutter, die ich nun freilich nie wiederzusehen glaubte, dachte ich nur noch dann und wann in einer meiner vielen schlaflosen Nächte. Denn mein eigenes Kind, das zu kränkeln anfing, nahm all meine Gedanken in Beschlag. Es war der bitterste Winter meines ganzen Lebens. Im Frühling, als ich eben ein wenig Hoffnung schöpfte, trat plötzlich eine Verschlimmerung ein. Eines Morgens hielt ich mein armes, liebes, letztes Glück kalt und stumm in meinen Armen. Am Tag nach dem Begräbnis, als ich wie zerbrochen an Leib und Seele tränenlos in meinem verwaisten Zimmer saß, wird plötzlich die Tür aufgerissen, und eine Gestalt stürzt herein, die ich erst erkannte, als sie, vor meine Füße niedergesunken, meine Knie mit beiden Armen umklammerte und in so krampfhaftes Schluchzen ausbrach, dass es mich durch und durch erschütterte. Sie sah gar nicht zu mir auf, sie hatte das Gesicht in meinen Schoß gedrückt, der Hut war ihr vom Kopf gefallen, ihr Haar hatte sich gelöst und hing ihr tief über die Schultern herab. Ich beugte mich zu ihr hinab und streichelte ihr sanft das Haupt. Komm, sagte ich, steh auf! Beruhige dich! Ich danke dir, dass du gekommen bist. Du hast mir wohlgetan. Wir wollen ruhig sein! Sie aber schluchzte fort, und ich hatte noch immer keine Tränen. Endlich umfasste ich sie mit beiden Armen, sie zu mir emporzuziehen. Aber sie entriss sich mir sträubend und schnellte, im ganzen Körper zitternd, in die Höhe. Nein, rief sie, du sollst nicht so gut zu mir sein, du sollst mir nur verzeihen, dass ich mich unterstanden habe, hier bei dir einzudringen, aber ich hielt's nicht länger aus, obwohl ich weiß, dass ich mich nicht mehr vor dir sehen lassen kann! Ich wollte schon früher kommen, das Kind verpflegen helfen, aber immer hielt mich die Furcht zurück, du würdest mir die Tür weisen. Nein, sage nicht, dass du es nicht getan hättest! Es wäre ganz recht gewesen, ich kann die Augen nicht mehr zu dir aufschlagen. O, ich bin ein armseliges verdammtes Geschöpf, Gott und Menschen müssen mich verabscheuen. Ich habe nur noch einmal dein Gesicht sehen wollen, und jetzt bereu' ich auch das, denn ich fühle, dass ich's nicht mehr wert bin — und nun — nun will ich fort. Leb wohl! Sie raffte ihr Hütchen auf und wollte hinauseilen. Ich hielt sie mit aller Gewalt am Arme fest und stellte mich vor die Tür. Schwarze, sagte ich, meine arme Schwarze, es ist dir schlecht gegangen, ich seh' es an deinen Augen, du bist krank — Nein, rief sie, schlimmer als krank, ich bin toll! Erschrick nicht, Goldene, ich habe meine fünf Sinne beisammen, aber es rast und tobt etwas in mir, ich habe einen bösen Geist in meinem Blut, der regiert mich, dass ich alles tun muss, was er will. Er hat mich fortgerissen von meinem guten Kind und dem braven Menschen, der ihm ein guter Vater sein wollte. Wie ich die Musik draußen auf der Straße hörte, da war's aus. Die Langeweile, das Stillsitzen, die Bravheit und Ehrbarkeit und Appell und Subordination — ich meinte, ich müsste geradezu ersticken, wenn ich das noch länger ertrüge. Ich wusste, dass es mein Unglück war, wenn ich fortliefe; er hatte mich ja schon das erste Mal schlecht behandelt, er ist kein guter Mensch, aber er hat eine Gewalt, die mich ihm nachzwingt, und so ging ich und hatte nicht einmal Gewissensbisse. Für das Kind ist ja gesorgt, dachte ich, dem wird es besser sein, wenn solch eine Mutter nicht bei ihm ist, und er — er findet eine bravere Frau. Nur dass ich dich nicht wiedersehen sollte, das tat mir weh. Aber, wie gesagt, ich war wie von einem Geist besessen, ich ließ alles im Stich; nun muss ich aufessen, was ich mir eingebrockt habe. Sie sank in großer Erschöpfung auf einen Stuhl und starrte vor sich hin. Ich konnte sie jetzt erst genauer betrachten. Sie trug anständige städtische Kleider und sogar einigen Schmuck, den ich früher nie an ihr bemerkt hatte. Hast du dein Kind nicht wiedergesehen? fragte ich. Doch, nickte sie, aber nur von draußen, durch das Fenster in der Wachtmeisterstube. Es saß am Tische, und er saß bei ihm und schien zuzuhören, wie es ihm aus einer Fibel vorbuchstabierte. Dabei rauchte er seine kurze Pfeife und sah ernsthaft mit seinen ehrlichen Vergissmeinnichtaugen vor sich hin, Gott vergelt's ihm, was er an der armen Waise tut! Vielleicht zieht er sie auf zu einem rechtschaffenen Weibe, das niemals merken lässt, was es für Blut von Vater und Mutter her in seinen Adern hat. Oh, dass ich elend werden musste, das ist ja kein Wunder! Ich habe mit Gewalt glücklich werden wollen, so wie es mir ums Herz war, ohne nach irgendwem zu fragen, und gemeint, ich könnte es unserem Herrgott abtrotzen, was er nicht gutwillig hergab. Das straft er nun und hat ganz Recht. Aber du, Goldene, was hast du verbrochen, dass dir alles genommen werden durfte, alles, alles! Oh, es ist eine jämmerliche Welt, und wenn ich am jüngsten Tage vor Gericht gefordert werde, ich werde meinen Mund dann schon auftun, ich werde sagen — Sie war aufgesprungen und stand mit funkelnden Augen und geballter Faust mitten im Zimmer. Nein, Schwarze, sagte ich, so sollst du nicht reden. Du bist jetzt außer dir, aber glaub nur, es ist noch nichts verloren. Wenn du jetzt selbst bereust, dass du dich von dem schlechten Mensch wieder hast fortlocken lassen, so wirst du ja in Zukunft klüger sein, und auch er wird wohl nicht wieder seine Macht über dich ausüben wollen. Ich bin überzeugt, dein Mann, wenn ich es ihm recht eindringlich vorstelle, gut wie er ist und immer noch verliebt wie am ersten Tage, er nimmt dich wieder zu sich, und es wird noch wieder gut. Und wenn du meinst, dass ich alles verloren habe — siehst du, ich habe, seit ich dich wiedergesehen, gefühlt, dass noch etwas lebt, was ich lieb habe, und schon um meinetwillen musst du gut und vernünftig sein und den bösen Geist besiegen, der dich so unselig gemacht hat. Ich trat auf sie zu und wollte sie an mich ziehen. Aber sie wehrte, am ganzen Leibe erschauernd, meine Annäherung ab. Um Gottes willen! rief sie, was tust du? Du weißt nicht — aber es ist zu spät. Wenn's nur der Hannickel wäre — von dem hab' ich mich getrennt für immer. Aber dann — ich war verlassen und allein und ganz ohne Hilfe — und da — und der rasende Trotz in mir — und mein wildes Blut —” Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und wandte sich ab. Ich sah, wie sie langsam der Tür zuwankte. Mir selbst waren die Glieder wie erstarrt bei ihrem Bekenntnis. Armes, armes Weib! sagte ich vor mich hin. Doch erst, als sie die Schwelle erreicht hatte, überwand ich mich und tat einen Schritt auf sie zu. Ich lasse dich so nicht fort! sagte ich. Wenn du allen anderen Menschen ausweichst — ich, deine alte Freundin, werde die Hand nicht wegziehen, mir musst du vertrauen, hörst du wohl? Sie schüttelte den Kopf. Lebewohl, Goldene! sagte sie mit einem dumpfen Ton, ohne mich anzublicken. Ich danke dir tausendmal für deine Güte, aber es ist zu spät, sie würde mir nur eine Qual sein. Sorge dich nicht um mich. Ich gehe jetzt zu meinem alten Vater, der ist mutterseelenallein und krank. Vielleicht kann ich dem noch nützlich sein. Sonst — es ist nicht mehr schade um mich. Lebewohl! Dann öffnete sie rasch die Tür, und ich hatte nicht den Mut und die Kraft, sie zurückzuhalten. * Kaum aber war ich allein, so warf ich mir meine Feigheit vor, meine Unentschlossenheit und Herzensenge, dass ich sie hatte von mir lassen können, statt mit Güte oder Gewalt sie ihrem elenden, verzweifelten Zustande zu entreißen. Ich verbrachte eine böse Nacht unter Selbstanklagen und tausend wirren Plänen, wie ich es anfangen sollte, das Einzige, woran ich noch mit lebendigen Fäden verknüpft war, mir zu erhalten. Selbst der Gram um meinen frischen Verlust trat vor dieser nagenden Sorge zurück. Am Morgen war ich noch nicht viel klüger. Aber ich sagte mir, dass ich vor allen Dingen ihr nacheilen und sehen müsse, was inzwischen aus ihr geworden sei und ob sie vorläufig bei ihrem Vater ein Unterkommen und eine Pflichtaufgabe gefunden, die wie eine heilsame Buße ihr zerrüttetes Gemüt wiederherstellen könnte. Mancherlei Geschäfte hielten mich in den Morgenstunden zurück. Es war Mittag geworden, als ich vor meinem Landhause in Liebenwalde anlangte. Da ich unangemeldet kam, war niemand da, mich in Empfang zu nehmen. Auch das Rasseln des Wagens und das Knallen der Peitsche verhallte ungehört auf der öden Dorfstraße, und das Haus mit den geschlossenen Fensterläden und der festverwahrten Tür sah mich unheimlich an. Ich ging nach dem Torweg der Hofmauer, den ich offen fand, aber auch hier war keine Menschenseele zu erblicken. Endlich kam aus einem der Wirtschaftsgebäude ein kleiner lahmer Knabe herausgehinkt, der auf meine Frage, wo Mamsell Sengebusch und die anderen Hausleute seien, mich erst blöde anglotzte und dann nach dem Part hinunterdeutete, ohne die Lippen zu bewegen. Ich schritt hastig, mit ahnungsvollem Herzklopfen durch den Blumengarten, der im ersten jungen Grün stand, und noch ehe ich den Park betreten hatte, sah ich unter den lichten Bäumen ein dunkles Gewimmel, ein wunderliches Hin– und Herlaufen. Keiner aber beachtete mein Kommen. Erst als ich dicht bei ihnen war, starrten mir hundert Blicke entgegen. Das halbe Dorf war zusammengelaufen, und jetzt hörte ich den ersten Laut, der mir das Entsetzliche verriet: Es ist keine Hilfe mehr — sie muss es schon in der Nacht getan haben — der Gärtner hat es gleich gesagt, wie er sie herauszog — Ich weiß nicht, wie ich die Kraft behielt, mich durch die Leute durchzudrängen, bis zu der Bank am Weiher, wo man sie hingelegt hatte. Der Bader war eben noch zum Überfluß bemüht gewesen, ihr eine Ader am Arm zu schlagen. Die alte Sengebusch kniete neben ihr und rieb ihr mit Äther die Schläfen. Sie lag lang ausgestreckt, das nasse Haar fiel schwer zu beiden Seiten auf die Erde nieder. Aber ihr bleiches Gesicht hatte einen fast freudigen Zug, und die Lippe, die sich von den oberen Zähnen ein wenig zurückgezogen hatte, schien zufrieden zu lächeln. Sie war mir nie schöner vorgekommen als in dieser grauenhaften Stille. Ich erfuhr nachher, dass sie am vorigen Abend bei ihrem gichtkranken Vater eingetreten sei und auf den Knien um seine Vergebung gefleht habe. Der sonst so gutmütige Alte, durch Schmerzen und Not verbittert, habe sie mit einem Fluch aus seinem Hause weggewiesen und auf all ihre Tränen und Gelöbnisse, dass sie nichts als seine Magd sein wolle, ein hartes, stumpfes Schweigen behauptet. Da sei sie endlich fortgeschlichen — und erst um die zehnte Morgenstunde, da der Gärtner den Weiher von dem wuchernden Entenflott habe reinigen wollen, sei das Unglück an den Tag gekommen. * Meine alte Freundin schwieg. Sie hatte sich in tiefer Erschöpfung in ihren Sessel zurückgelehnt und die Augen zugedrückt. Ich fand kein Wort, mit dem ich den dumpfen Nachklang dieser Erinnerungen zu unterbrechen gewagt hätte. Endlich hob sie wieder das matte Haupt und sagte: Ich habe Sie lange mit dieser traurigen alten Geschichte aufgehalten, lieber Freund. Vielleicht ist sie Ihnen durchaus nicht so merkwürdig erschienen, und ich habe es nur schlecht vermocht, Ihnen ein Bild dieses armen Menschenwesens zu geben. Aber wie ich Ihnen schon vorhin gesagt habe: wenn ich jetzt zu wählen hätte, wen von allen Menschen, die mir je lieb und teuer waren, ich von den Toten heraufbeschwören wollte, um einen Tag mit ihm zu verbringen, ich besänne mich keinen Augenblick. Meine arme „Schwarze” nur noch auf ein paar Stunden wiederzusehen, würde mir eine überschwängliche Freude machen. Werden Sie noch Ihre Philosophen in Schutz nehmen, die nichts davon wissen, dass Freundschaft ein elementarer Naturtrieb ist, unverantwortlich und unergründlich wie jene Gewalt, die Mann und Weib in blinder Leidenschaft zueinander zieht? ----- Ta lektura, podobnie jak tysiące innych, dostępna jest na stronie wolnelektury.pl. Wersja lektury w opracowaniu merytorycznym i krytycznym (przypisy i motywy) dostępna jest na stronie http://wolnelektury.pl/katalog/lektura/heyse-die-schwarze-jakobe. Utwór opracowany został w ramach projektu Wolne Lektury przez fundację Wolne Lektury. Wszystkie zasoby Wolnych Lektur możesz swobodnie wykorzystywać, publikować i rozpowszechniać pod warunkiem zachowania warunków licencji i zgodnie z Zasadami wykorzystania Wolnych Lektur. Ten utwór jest w domenie publicznej. 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Opracowanie redakcyjne i przypisy: Paulina Choromańska, Antje Ritter-Jasińska. ISBN-978-83-288-2309-9