Spis treści
Totenmesse
1Einen von den Unbekannten, von den im Dunklen und in Vergessenheit lebenden „Certains” führe ich hier vor.
2Es ist Einer von denen, die auf dem Wege hinknicken, wie kranke Blumen, — Einer von dem aristokratischen Geschlechte des neuen Geistes, die an übermäßiger Verfeinerung und allzu üppiger Gehirnentwickelung zugrunde gehen.
3Wie ich in der Serie „Zur Psychologie des Individuums” durchaus keine Kritiken schreiben wollte, sondern einzig und allein die jüngste Evolutionsphase des menschlichen Gehirnes zu untersuchen beabsichtigt, ihre feinen und feinsten Wurzelfasern zu beschreiben, ihre Zusammensetzung zu analysieren, ein Totalitätsbild dessen zu geben, was noch unklar und verschwommen, nichtsdestoweniger immer energischer in den verschiedensten Äußerungen des modernen Lebens sich kundgibt: so auch in dieser Erzählung.
4Es sind zumeist nur feine Spuren, die sich bis jetzt verfolgen lassen, zumeist nur Schattenstreifen, die eine Monomanie, eine Psychose in die Zukunft wirft; aber das sind die geknickten Zweige in der finsteren Wildnis, die zur vorläufigen Orientierung genügen.
5Man erschrecke nicht vor den Neurosen, die am Ende doch den Weg bezeichnen, den die fortschreitende Entwicklung des menschlichen Geistes einzuschlagen scheint. In der Medizin hat man sich schon längst abgewöhnt, beispielshalber die Neurasthenie als eine Krankheit zu betrachten; sie scheint vielmehr die neueste und absolut notwendige Evolutionsphase zu sein, in der das Gehirn leistungsfähiger und vermöge der weit größeren Empfindlichkeit viel ausgiebiger wird.
6Wenn auch die Neurose vorläufig noch tief den Organismus schädigt, so ist das weiter nicht schlimm. Gegen das Gehirn ist die sonstige körperliche Entwicklung zurückgeblieben, aber es dauert nicht lange: der Körper wird sich anpassen, das wunderbare Selbststeuerungsgesetz wird in Funktion treten, und was heute neurasthenisch heißt, wird sich morgen die höchste Gesundheit nennen.
7Grade in den Neurosen und Psychosen liegen die Samenkeime eines neuen, bis jetzt noch nicht klassifizierten Empfindens; sie sind es, in denen das Dunkle sich mit der Morgenröte des Bewusstseins rötet und die unterirdischen Riffe sich über das Niveau der Meeresfläche heben.
8Wenn auch manches „cent fois grandeur naturelle” erscheint, so schadet auch das nichts! Was groß ist, kann besser gesehen werden; für den Psychologen kann solche Größe nur willkommen sein.
9Einen Unbekannten, Einen „vom Wege” habe ich aufgelesen. Die Menschen, die ich analysiere, brauchen durchaus nicht literarische „Größen” zu sein; aus dem Empfindungsleben eines fein konstruierten Alkoholikers, eines Monomanen, der an Schreckbildpsychose leidet, kann man tiefere und feinere Rückschlüsse auf die Psychologie der Zeit, auf die Natur einer wirklich individuellen Veranlagung gewinnen, als aus den Werken manches großen Literaten.
10Zumeist sind es die großartigsten Offenbarungen des Intimsten und Innersten der Menschenseele; zuckende Blitze sind es, die in das große Unbekannte, in das fremde Land des Unterbewussten ein grelles, wenn auch momentanes Licht werfen.
11Dass diese „Certains”, diese geistigen Sachsengänger, die überall und nirgends ihre Heimat haben, zugrunde gehen, ist weder befremdlich noch traurig. Sie sind vielleicht der einzige Luxus, den sich die Natur jetzt noch gestattet. Die Seele ist ihr großes Meisterwerk, aber sie schafft und experimentiert noch immer an ihm, noch immer schafft sie neue Versuchsformen, bis sie eines Tages doch vielleicht das große Übergehirn erschafft, nach dem es sie gelüstet.
12Der Psychologe hat selbstverständlich das unumschränkte, unbegrenzte Recht, ein solches Experimentierobjekt mit derselben Freiheit zu behandeln, mit derselben Ruhe, mit demselben Jenseits von Gut und Böse, wie es beispielshalber dem Botaniker ohne Widerrede eingeräumt wird, wenn er eine neue Spezies behandelt. Von diesem Rechte habe ich Gebrauch gemacht.
13Die Erzählung, in der dies individuelle Leben speziell in Rücksicht auf den Geschlechtswillen untersucht wird, ist in der Ichform geschrieben, weil man in ihr den intimsten Puls am besten erfassen, das leiseste Zittern des neuen, aus den Plazentahüllen des Unbewussten sich sehnenden Geistes am deutlichsten vernehmen kann.
14
Am Anfang war das Geschlecht. Nichts außer ihm — alles in ihm.
15Das Geschlecht war das ziel– und uferlose ἄπειρον des alten Anaximander, als er Mir den Uranfang träumte, der Geist der Bibel, der über den Gewässern schwebte, als noch nichts war außer Mir.
16Das Geschlecht ist die Grundsubstanz des Lebens, der Inhalt der Entwicklung, das Wesen der Individualität.
17Das Geschlecht ist das ewig Schaffende, das Umgestaltend-Zerstörende.
18Es war die Kraft, mit der Ich die Atome aufeinander warf, — die blinde Brunst, die ihnen eingab, sich zu kopulieren, die sie Elemente und Welten schaffen ließ.
19Es war die Kraft, die den Äther in namenlose Sehnsucht brachte, seine Teile Welle in Welle zu kuppeln, sie in heiße Vibrationen stürzte und zu Licht werden ließ.
20Es war die Kraft, die den elektrischen Strom in sich zurücklaufen, Dampfmoleküle aneinander prallen ließ, — und so ist das Geschlecht Leben, Licht, Bewegung.
21Und das Geschlecht wurde maßlos geil. Es schuf sich Fangarme, Trichter, Röhren, Gefäße, um die ganze Welt in sich hineinzuschlurfen; es schuf sich einen Protoplasmaleib, um mit unendlicher Fläche zu genießen; es sog alle Lebensfunktionen in seinen gierigen Schlund hinein, um sich zu befriedigen.
22Und es wälzte sich dahin in endloser Evolution und konnte nicht ruhen; und es streckte sich aus in zahllose Formen und konnte sich nicht befriedigen. Es raste nach Glück im Trochiten, es wieherte nach Genuss in der ersten Metazoë, als es das Urwesen in zwei Teile zerriss und sich selbst in zwei Geschlechter spaltete, grausam, brutal, zur gegenseitigen Zerstörung, nur um ein neues, raffinierteres Wesen zu schaffen, das eine kompliziertere Befriedigungsorgie für die ewig hungrigen Dämonen seiner Wollust erfinden könnte.
23Und so schuf sich das Geschlecht endlich das Gehirn.
24Das war das große Meisterwerk seiner Wollust. Es fing an ihm zu kneten und zu winden an, und drehte an ihm, und stülpte es aus in Sinnesorgane, zerteilte das, was ganz war, in tausend Modifikationen, differenzierte Gemeingefühle zu distinkten Sinneseindrücken, zerschnitt ihre Verbindungen untereinander, dass einer und derselbe Eindruck in verschiedenen Sensationen kostbar würde, dass die einheitliche Welt als fünf– und zehnfache Welt erschiene, und wo früher eine Kraft sich sättigte, wühlten nunmehr tausende.
25 26Das Geschlecht liebte die Seele. An seiner hermaphroditischen Brust ließ es die Gehirnseele erstarken; es war für sie die Aorta, die von dem Herzen des Allseins ihr das Lebensblut zuführten es war für sie die Nabelschnur, die sie mit der Allgebärmutter verband; es war der Linsenfocus, durch den die Seele sah, die Skala, in der sie die Welt als Ton, der Umfang, in welchem sie die höchste Lust, den höchsten Schmerz perzipierte.
27O — das arme, dumme Geschlecht! und die undankbare Seele!
28Das Geschlecht, das sich durch Mich ins Allsein objektivierte, das zum Lichte wurde, das sich die Seele schuf, ging an dieser Seele zugrunde.
29Was Mittel sein, was dienen sollte, wurde Selbstzweck, wurde Herrschaft. — Die Sinneseindrücke, die eine neue Zuchtwahl einleiten, neue Gattungen bilden sollten, fingen an, autonom zu werden.
30Die distinkten Sinne fingen sich zu mischen an, das Oberste wurde zum Untersten, Ton zur Farbe, Geruchserregung zur Muskelempfindung, die Ordnung wurde zur Anarchie, und ein wütender Kampf zwischen Mutter und Kind begann.
31Sie wollte es bemeistern, unterjochen; sie spannte um ihr Kind die Mutterkrallen, sie riss an ihm, band es an sich fest mit tausend Lüsten, tausend geilen Fäden, sie warf es auf das Genital– und Zeugungstier — das Weib; sie überflutete seine Augen mit Blut und stumpfte sein Gehör ab, und dämpfte seine Stimme zum heißen, keuchenden Liebeszischen, und brachte seine Muskeln in Krämpfe, und ließ Wollustschauer wie bebende Schlangen über seinen Körper kriechen, — aber nichts, nichts konnte helfen.
32Die kleine Bakterie fraß den Leukozyten auf.
33Vergebens ließ er alle seine Lebenssäfte auf den Punkt zusammenströmen, wo die Bakterie saß und um sich fraß, vergebens warf er seinen Kern in seine satanische Braut, sie mit seiner Lebensachse zu zerstören; der Kern zerbirst, reißt auseinander, er zerfällt in seine Granula, und die höchste Lebensfunktion, die Allmutter Alles Seienden, die Erschafferin der Lebewesen, der Vatersame jeglicher Entwicklung, ist tot.
34 35Huh! Das war die Brautnacht, die blutschänderische Brautnacht — des Geschlechtes mit der Seele, das Hohe Lied von der siegenden Bakterie.
36Und die Seele wurde krank und welk und siech.
37Eigenhändig hat sie sich von der Gebärmutter losgerissen, die Aorta unterbunden, die Kraftquelle versiegen lassen.
38Sie lebt, — ja, sie lebt noch, weil sie sich sattgefressen hat am Geschlechte; sie zehrt noch an dem Inhalt, den das Geschlecht ihr gab. Sie produziert Formen und Töne, die sonst nur der Fortpflanzung dienten; sie kann sich noch Halluzinationen schaffen, die sonst nur die Sexualsphäre reizten; sie kann sich in eine Ekstase versteifen, die dem Größenwahnsinn des Geschlechtes gleicht, wenn es wähnt ein fremdes Wesen in sich aufgehen lassen zu können. Aber alles, was sie so auf eigene Faust erzeugt, ist nur Luxusfunktion, wie die Kunst nur Luxusfunktion des Geschlechtes ist, und ist steril, was die Kunst nicht ist, weil in ihr der mächtige Pulsstrom des lebendigen Geschlechtes, der fieberheiße Samengolf des Lichtes, des Willens nach persönlicher Unsterblichkeit erzittert.
39Und so muss die Seele untergehen; so muss die siegende Bakterie an dem resorbierten Leukozyten sterben.
40Aber ich liebe die heilige, große Funktion, in die sich mein Geschlecht verflüchtigte und sublimierte: meine große, sterbende Seele, die mir mein Geschlecht geraubt hat und es auffraß, um daran zu sterben.
41Und so muss ich untergehen an meinem zerfallenden, in tausend übergeschlechtliche Sensationen zerbröckelten Geschlecht.
42Ich muss untergehen, weil die Lichtquelle in mir ausgetrocknet ist, weil ich das Schlussglied bin in der endlosen Kette der Entwicklungstransformationen meines Geschlechtes, weil die Wogen dieser Geschlechtsevolution nicht über mich hinauskönnen, weil ich der weiße, sturmgepeitschte Schaum bin auf dem Kamme ihrer letzten, brandenden Woge, die sich bald am Strande zerschlagen wird.
43Ich muss untergeben, weil meine Seele zu groß wurde und zu schwanger mit meinem Geschlechte, als dass sie einen neuen, leuchtenden, morgenbrünstigen, zukunftsfrohen Tag gebären könnte.
44Und so muss ich an der sterilen Schwangerschaft meiner Seele zugrunde gehen.
45Aber ich liebe auch mein totes Geschlecht, dessen Reste meine Seele aufzehrt; ich liebe diese letzten Blutstropfen meiner Individualität, in denen sich das Ursein widerspiegelt in seiner ganzen Majestät, in seiner Untiefe und Abgründigkeit, blass und schwach; ich liebe das Geschlecht, das meine Gehörseindrücke mit den wunderbarsten Farben färbt, Geschmackshalluzinationen auf die Sehnerven leitet, epidermale Eindrücke zu visionären Ekstasen werden lässt, — und ich liebe meine Krankheit, meinen Wahnsinn, in dem so viel von doktrinärem, raffiniertem, höhnendem, mit ernster, heiliger Miene höhnendem System sich offenbart.
*
46Ich bin ganz ruhig — und sehr, sehr müde.
47Nur tief, ganz tief, schmerzt mich etwas. Es ringt etwas nach Gleichgewicht; oder vielleicht, ja, vielleicht ringt es in der letzten Agonie.
48Etwas ist verloren gegangen; der mystische Oszillationspunkt, auf den sich alle meine Kräfte beziehen. Er wurde aufgehoben durch tausend andere Kraftzentra, und das Einheitliche zerfiel in tausend Scherben.
49Meine Gedanken nehmen etwas Eigenwilliges an, sie gehen und kommen spontan, willkürlich, zügellos.
50Manche erscheinen mir wie rötliche Phosphoreszenzen um einen tiefvioletten Heiligenkranz, wie man die Interferenzen der Gaslichtlaternen im Regenwetter durch die trüben Scheiben sieht, ganz weich und flüchtig. Manche kommen mir vor wie ein langer Lichtstrahl, der auf eine wellengekräuselte Wasserfläche geworfen wird; irgendwo in der Tiefe spiegelt er sich wieder, in Millionen Lichtflecke zerbrochen, die sich auf den Wellen wiegen, umarmen und küssen in einer überirdischen Reinheit, Keuschheit und Ewigkeit.
51Andere wachsen ins Riesenhafte, Ungeheure, Exotische aus. Mein Gehirn, das bisher nur in europäischen Dimensionen zu denken gewohnt war, entspannt jetzt die gewaltigen Formen der Tempel von Lahore, kombiniert die ägyptische Sphinx mit dem chinesischen Drachen; es schreibt mit den furchtbaren Massen, aus denen die Pyramiden entstanden sind, es denkt in dem vollen, majestätischen Sanskrit, wo jedes Wort ein lebender Organismus ist, der durch einen mystischen, pangenetischen Vorgang zu einem Wesen wurde, ein an riesigen Geschlechtsorgan mit unermesslicher Zeugungskraft, das alle Sprachen, alle Gedanken gezeugt hat: eine Synthese von Logos und Kâma — das Wort des Johannes, das zum Fleische wurde.
52Und ich schwelge dann in wüsten Raumphantasien. Ich bin ein assyrischer König, mit himmelstürmender Tiara und grellen, lichtgewobenen Brokatkleidern; auf dem Sensenwagen schwebe ich dahin über der europäischen Misere mit einer Macht und grandiosen Herrlichkeit, die einst die Sklaven auf ihr Angesicht in Staub und Kot geworfen hat.
53Ja: ich liebe die babylonische, schweigsame Majestät, wo die Worte teuer und kostbar waren, weil sie einen schauerlichen Geburtsakt kosteten.
54Ja: ich liebe die titanische, naive Gewalt des Machtbewusstseins, die die Götter verhöhnt, die über Menschen herrscht und all Getier, die das Meer peitschen ließ und in unbekannte Länder Fesseln mit sich führte.
55Ja: ich liebe den Wahnsinnstrotz, den granitharten, drachenzahngeborenen Stolz des biblischen Menschen, der dem grausamen Gotte höhnend mit dröhnendem Lachen sein erstes Satan-Jehovah zuruft und einen Felsen aus der Erde reißt, um ihn gegen den Himmel zu werfen, gegen die eherne Stirn des furchtbaren Mörders, der seine selbsterschaffene Brut geißelt für die Sünden, die er selbst ihr eingeimpft hat.
56Und ich fühle, wie mir die Pupille das Auge überflutet, wie mein Körper sich reckt, wie die Brust mit doppelter Lungenkapazität sich dehnt und die furchtbare, heilige Mitrasstille sich auf mein Antlitz legt.
57Und dann kommt der gigantische Augenblick, wo ich Sensationen empfinde mit einer Fläche von tausend Quadratmetern, wogegen diese paar Kubikzentimeter Blut, mit denen ich Sauerstoff absorbiere, eine lächerliche Kleinigkeit sind, — wo ich die Wiedergeburt aller Völker und Kulturen in mir seine, — wo ich mit unaussprechlicher Liebe das kindliche Konglomerat von grellsten Farben auf einem ägyptischen Friese und die höchste technische Farbenvollkommenheit irgendeines Franzosen genieße, — wo mir das lächerliche Tam-tam eines Negerliedes neben der kompliziertesten Chopinschen Sonate als gleicher Genuss gilt, — wo sich alle meine Sinne durchdringen wie in einer Xenophanischen Gottheit oder wie in einer Molluske, die nur mit einem Organe alle Sinneseindrücke aufnimmt.
58Und wenn der Raum entweicht, — wenn alles um mich einstürzt, wie Wellen in ein Loch, das ein Kind mit einem Steine in die Wasseroberfläche einschlägt, — — wenn die Herrschaft über meine Muskeln aufhört und ich Haut– und Muskelsinn verliere und nicht mehr weiß, ob ich da bin, — wenn tausend Jahre in mir rückwärtsfluten und ich auf Augenblicke meine nackte Individualität, mein sterbendes Geschlecht zurückgewinne, dass ich in das Ursein sinke, mich als Uratom begreife, der sich selber begatten will, und den Puls des Allseins sich in meine Adern gießen fühle: dann empfinde ich ein namenloses, tiefes, unendliches Glück, weit und tief wie die Atmosphäre, die sich über die Welt gelagert hat Ich begreife sehr gut, dass es das Ende ist.
59Ich weiß, dass es Desintegrationen der Empfindungen, schwere Muskel– und Innervationsstörungen sind. Aber was geht das alles Mich an!
60 61Und wenn auch meine Empfindungssphäre sich völlig von meinem Willen emanzipierte, wenn meine Seelenzustände nur zur Hälfte gedeihen, — eine wirre Menge von Gedanken, ein zerfasertes Netz von Gefühlen, jeder motorischen Energie von Grund aus bar: so genieße ich dafür in Mir das wunderbare, mikrokosmische Bild einer titanischen Weltanschauung! —
62Ich, das Subjekt, bin nur in der Empfindung; ich kenne mich nur in der Empfindung; ob die zum Willen wird, ist furchtbar Nebensache.
63Ich kenne nichts außer meiner Empfindung, und ich kenne vor allen Dingen keine Kausalität, nur Aufeinanderfolge meiner Empfindungen; ob sie logisch sich abwickeln oder nicht, das ist nicht meine Sache.
64Mein Subjekt sitzt einfach auf dem Isolierschemel. Es ist das Gravitationszentrum, um das das illusorisch Seiende oszilliert; es guckt durchs Mikroskop oder, je nachdem, durchs Fernrohr; und in der Souveränität Meines Subjektes erlaube Ich Mir zu denken, dass alles nur ein Traum ist und das „Wirkliche” nur eine besondere Form des Traumes und Ich mir selbst so fremd wie Euch.
65Und Euretwegen, die ihr gar vielleicht nicht existiert, ihr Hirngespinste meiner geschlechtsschwangeren Seele: Menschenkinder, euretwegen sollte ich leben?
66Etwa weil ich der Menschheit etwas schuldig bin, weil ich „doch nun einmal da bin”?
67Ha, ha, ha! Mais rassurez vous: Ich liebe euch alle —
68euch, die ihr nichts zu sein vermögt, als die autonomen Geschlechtsorgane der Argonauten, die sich in der Brunstperiode vom Mutterleib ablösen und auf eigene Faust das Weibchen suchen;
69und euch, die ihr euch in ständiger geschlechtlicher Innervation befindet, euch Künstler nennt und eure Wollustideale produziert;
70und euch, die ihr ewig lauert auf Erwerb für eure fortgepflanzten Spermatozyten, was ihr Liebe zur persönlichen Unsterblichkeit benamst;
71und euch, die ihr maßlos verschwenderisch seid; denn in eurer Narrheit waltet die dumme Grandiosität der Geschlechtsnatur, die fünfzehn Millionen Spermatozyten braucht, um ein lächerliches Eichen zu befruchten,
72oh! ich liebe euch alle, und ich bedauere euch, weil ihr leben müsst und der Misthaufen seid, dem neue Zukunft entsprießen soll, weil ihr Mittel seid und Genitalorgane des Geschlechtes und euch verpflichtet fühlt, für andere zu leben.
73 74Ich bin Anfang, weil ich die ganze Entwickelungsreihe in mir trage, und bin Ende, weil ich ihr Schlussglied bin.
75Allein mit meinen Empfindungen.
76Ihr habt noch eine Außenwelt; ich habe keine, ich habe nur Mich.
77 78Ich, die große Synthese von Christus und Satan, der ich mich selber auf den Berg führe und in Versuchung bringe und mich übertölpeln will.
79Ich, die Synthese von trunkenster Begeiferung und kalt berechnetem Raffinement, die Synthese vom gläubigsten Urchristen und höhnisch grinsenden Unglauben, ein mystischer Ekstatiker und satanischer Priester, der mit gebenedeitem Munde die heiligsten Worte und obszönsten Blasphemien im selben Augenblick verkündet.
80Und in diesem Augenblicke habe ich eine Lichtempfindung, wie wenn ein ganzes Meer von Purpurrot aus halbgeronnenem Venenblut über den Himmel ausgegossen wäre, und in den Ohren einen schneidenden, sauren Ton in der Applikatur, wie wenn ein Folterknecht mit einer Säge durch eine Glasplatte schnitte —
81*
82Du bist wie ein schwacher, matter, silberner Lichtstrahl, den ein Hüttenfenster in einer lauen Herbstnacht auf die Wiese ausgespien hat über das nasse, weiche Nebeltuch, das mit brünstiger, lustsatter Müdigkeit auf dem Grasteppich lagert. Über die Nebelfläche wiegt er sich wie eine zögernde Welle Licht; wie Glockentöne zum Ave-Maria fließt er rein, golden, allmählich verklingend, und lange hallt er nach und gießt sich in den Körper mit matter, kranker Ruhe.
83Du bist wie die blaue Morgenstunde, wenn der Osten sich zu röten und Licht auszuatmen beginnt. Die ganze Welt sättigt sich mit den dunklen Osternachtmysterien der Auferstehung, sie taucht unter in der blauen Seligkeit des Himmels, sie zerfließt in dieser Atmosphäre kalten, flüssigen Damaszenerstahls, und plötzlich brennt sie auf, in weitem, tiefem violetten Farbenmeer, das die ersten, melancholischen, traummüden Lichtkolumnen entfachen.
84Und alles ist tief und blau und heilig.
85Um deine Augen war es wie Protuberanzenschein bei Sonnenfinsternissen, wie eine Phosphoreszenz der Fäulnis, und sie glühten wie zwei tiefe Sterne einer schwarzen Herbstnacht in den Abgrund meiner Seele hinein.
86Um deine Mundwinkel feine, weiche Interferenzlinien, die mich an meinen heimatlichen See erinnerten, an die klare, stille Wasserflut, wenn ich sie mit dem Ruder bewegte.
87Deine Stimme kam zu mir, wie wenn sie über das grüne Meer mit dem Frühlingswinde hergeweht wäre, und ich höre sie fortwährend als ein aufgelöstes, in Schallatmosphäre transformiertes Lichtmeer, das mich beständig umfließt mit unendlich feinen, distinkten Wellenschwingungen.
88Ich gehe wie eingehüllt in sie, und meine Gedanken fließen auf und nieder auf der wogenden Rhythmik dieser Stimme mit der weichen — frauenhändeweichen Dominante in cis-Moll.
89Als ich dich das erste Mal erblickte, war es mir, als ob ich meine Individualität in ihrer mystischen Nacktheit gesehen hätte.
90Du warst für mich die Offenbarung meines höchsten Schauens; in dir war das Rätsel meiner höchsten ästhetischen Sehnsucht gelöst. Du warst die Geschichte meiner Entwicklung, meine sexuelle Vergangenheit. Ein Stück Palingenesis warst du von mir; in uns beiden hat sich die gemeinsame Uridee, die gleiche Woge der Geschlechtsevolution objektiviert.
91Und so musste ich deine Formen, deine Bewegungen lieben, so musste mich die Stimmung, die du strömtest, berauschen, weil mein Geschlecht mir meine Seele auf dich eingerichtet hatte, dass sie dich zum Fraße ihm zuführe, zum Molochopfer überliefere.
92Du warst wohl ursprünglich mein höchstes sexuelles Ideal; doch seitdem sich meine Seele autonom erklärte und mein Geschlecht erwürgte, konnte ich dich nur noch mit den Sinnen meiner Seele lieben, ihre Werkzeuge auf dich richten, dich mit meinen Augen trinken, den Tonfall deiner Sprache streicheln, meine Muskeln innervieren lassen durch die verschwimmenden Linien deines Körpers in eine unendliche Weichheit.
93Und ich habe dich genossen in ewiger Qual und namenloser Sehnsucht. Es war, wie wenn ich eine Art physiologischen Amöbenbewusstseins empfangen hätte und den Augenblick in mir verspürte, als die Amöbe sich teilte, die Hälfte ihres Kernes zum neuen Wesen werden ließ, dieses verloren hatte und sich nun in brütender, qualvoller Sehnsucht nach ihm sehnte.
94Es war, wie wenn ich mich als Hermaphroditen fühlte, mich selbst parthenogenetisch befruchtet hätte, ein Weibchen nach meinem Urbilde schuf, das aber fremd und Nicht-Ich wurde.
95Und ich sehnte mich nach dir immer und ewig, ich sehnte mich nach jenem Augenblicke, als du Eines mit mir warst, bevor ich mich in deinem Körper objektivierte.
96Ich sehnte mich in heißem Fieber nach dem Werdeprozess, wie die Formen Meines Geistes sich in deinen Körper kleideten, die Zuckungen meiner Muskeln dich ins Leben leiteten, wie du nach dem Muster meines Geistes wurdest und ein neues Wesen begann.
97Ich liebe dich, wie die untergehende Sonne das Roggenfeld an Sommerabenden mit den letzten, blutroten Strahlen liebt; ich scheide ungern von dir, wie die Sonne von der Erde scheidet mit Weh und Sehnsucht, weil sie das heilige Mysterium der Nacht nicht sehen kann.
98Das Mysterium der Nacht und des Abgrunds — in Dir wollte ich es sehen. Ich griff nach ihm mit fiebernden, qualstöhnenden Fingern; wie feine Lanzettenspitzen grub ich sie in deine Tiefe, und immer entschlüpfte es mir, glitt tiefer, verschwand.
99Das Grundelement verflüchtigte sich in tausend Sublimationen, und mein Geist rang und krümmte sich in wilder Qual, dich wieder in sich aufzusaugen, dich aufzulösen in deiner brünstigen Hitze wie ein Stück Metall — Dich, seine verlorene Kernhälfte.
100Und so bliebst du mir fremd, weil nur mein Geschlecht dich wiedererkennen könnte; das lebendige, nackte Geschlecht, das in mir tot ist.
101Tot ist Das, was war, bevor ich wurde, was deinen Entstehungsprozess sah, was ihn vielleicht veranlasst hat, was durch endlose Formen sich bis zu mir hindurchgerungen hatte, was einst keine katoptrischen Instrumente brauchte, tun zu sehen, kein Cortisches Organ, um zu hören.
102Ich liebte dich nur mit meiner Seele, mit der skeptischen, kranken Seele, die dich als klein, mir unterlegen, meine Magd und Sklavin empfand.
103Ich liebte deine Lüge, weil ich selbst verlogen bin.
104Aber während deine Lüge ein paar lächerliche Liebhaber an der Nase führen konnte, schuf meine Lüge die wunderbarsten wissenschaftlichen Hypothesen, schuf neue Welten, schuf Poesie, zwang den Menschen neue Gedanken, neue Gesittung auf, vollbrachte die ganze Kulturarbeit.
105Ich liebe dein Verbrechertum, weil ich selbst Verbrecher bin.
106Aber während Du als Verbrecher höchstens Prostituierte, Diebin und Kindesmörderin werden konntest, habe Ich als Verbrecher neue Gesetzestafeln geschrieben, alte Religionen vernichtet und neue entsponnen, Völker von der Erdkarte weggestrichen, der Erde die Eingeweide herausgerissen: Ich, der nimmersatte, ewige Verbrecher, der Erreger des Stoffwechsels in der Geschichte, der Geist der Evolutionen und Zerstörungen.
107Ich liebe dein Geschlecht, das dich brünstig und empfänglich machte; du warst der Maßstab für die Stärke meiner Muskelkraft, mit deinem Gebärmuttergehirn hast du mein Geschlecht begriffen, mich in meiner Nacktheit gesehen, mich vor mir selbst entkleidet und das Rätsel meines Seins entwirrt.
108 109 110Deshalb liebe ich deine Lüge und dein Verbrechertum, weil sie deine Geschlechtsfunktionen sind, mit denen du den Weltgeist in mir fasstest und dich an ihm festsaugtest und ihn auf dich wirken ließest, um ihn doch vielleicht der neuen Zukunft, die deinem Schoß entsprießen sollte, dienstbar zu machen.
111Vor meinen Augen steigen Bilder namenloser Qual auf, die ich mit dir verlebte.
112Erinnerst du dich wohl, wie du im ekstatischen Aufschwung deines starken Geschlechtes mich tief, schmerzlich tief, in dich hineinpresstest?
113Von unten empor drangen Tonwellen irgendwelcher Musik in mein Zimmer herauf; durch grünen, dichten Abat-jour ergoss die Lampe mattes Krankenbettlicht, und ich fühlte, wie durch irgendeinen Vorgang die Zuckungen deines Körpers sich mir mitteilten, wie sie auf meine Blutbahnen wirkten und das Herz in kleineren Zwischenräumen das Blut in die Gefäße speien ließen und in meinem Gehirne lange, lange nicht betretene Pfade in Erzitterung gerieten.
114In diesem Augenblicke fühlte ich Glück.
115Ich horchte gespannt, wie die geschlechtlichen Elemente sich summierten, wie eine schwache Welle sich in meinem Körper fortpflanzte, die immer stärker wurde, immer weitere Interferenzkreise um sich zog; ich fühlte, wie mein Kehlkopf sich zusammenschnürte und banale Liebesworte stammeln wollte, wie mein Bewusstsein immer schwächer wurde, immer geringeres Verständnis für die inneren Vorgänge hatte, — aber da plötzlich hat dein Körper sich in eine schiefe, gebrochene, unanständige Linie gekleidet, und im Momente stürzte das mühevolle Werk intensesten Wollustschmerzes zusammen, das Gehirn packte mit eisernen Raubtierkrallen das Geschlecht und erwürgte es.
116Und du lagst da, und betteltest mit deiner Brunst, schweigsam mit geschlossenen Augen.
117Und ich lachte; roh, zynisch, gemein; — lachte, dass ich glaubte, mir würden alle die feinen Blutgefäße in meinen Lungenbläschen platzen.
118Du armes Kind! — Deine Gebärmutter hat dich übertölpelt. Aber beruhige dich: du hast mit ihr das Saїsrätsel meines Lebens geschaut.
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119Ich entstamme einer Mischehe zwischen einem protestantischen Bauern und einem katholischen Weibe, das einer alten, verarmten, aristokratischen Familie angehörte.
120In meinen Erinnerungen dominiert noch immer die schlanke, schmächtige Frau mit dem Carlo-Dolci-Gesicht, in deren Züge Jahrhunderte von Verfeinerung und auserlesenster Zuchtwahl ein unauslöschliches Stigma geprägt hatten.
121Sie liebte niemals den Vater; sie heiratete ihn nur deshalb, um bei ihren Standesgenossen nicht dienen zu müssen. Unter endloser Qual hatte sie gelernt, sich seiner Lust hinzugeben; unter tiefstem sinnlichem Ekel, unter der mächtigsten Empörung ihrer blutenden Seele, der nach Rache schreienden Physis wurde Ich geschaffen.
122Von Anfang an Schmutz — und Schmutz — und Schmutz.
123So weit sich meine Erinnerungen strecken, empfand ich mich immer als etwas Unkoordiniertes, Widerspruchvolles, Zusammengewürfeltes, das mein Wollen paralysierte und mein Denken durch impotente, aber immerwährende Impulse in steter Reizbarkeit erhielt.
124Immer hatte ich etwas an mir, das nicht die geringste Affinität zu anderem in mir besaß. Die heterogensten Elemente lagen als Gemenge nebeneinander, ohne Verbindungen stiften zu können; kleine feindliche Teufel standen sich gegenüber, um sich bei jeder Gelegenheit mit blutigem Hohn zu beschimpfen.
125Die Mutter war das große geologische Agens, das die entstehenden Formationen meiner Seele verschob, kantete, auflöste, abnorme Verbindungen bildete und mit ihrem Geiste den ersten giftigen Bildungskeim in die frische Krume legte.
126Und dieser Bildungskeim, der zu einem Seuchenherde wurde, aus dem die kranken Sumpfblumen meiner Lebensäußerungen sprossen, das war ja jene unbefriedigte geschlechtliche Sehnsucht; das war ihr eigener abgründiger Zwiespalt zwischen der Gebärmutter und der Seele; — das war, dass ihr Geschlecht von der Seele als etwas Schmutziges weggestoßen werden musste, weil es einem ungeliebten Manne zum Werkzeug diente.
127Ihre Seele sah sich in den Kot getreten, mit brutaler Kraft vergewaltigt, und sie schwang sich empor mit wildem Elan nach etwas grenzenlos Innigem, Reinem, Verklärtem, Geschlechtslosem.
128Das Geschlechtslose in ihr erzeugte das Geschlechtslose außer ihr, ein Etwas, um das sich alle ihre Gefühle wie um einen kosmischen Kernpunkt gruppierten, in Wärme gerieten, ewig wechselten, in ewigem Fluss verharrten.
129Und wenn wohl auch allmählich die Leidenschaft und Wärme ihrer Sehnsucht matter wurde und das große Weh, das diese Sehnsucht belebte, sich verlor, so blieb doch immer etwas, dessen Herkunft sie nicht mehr sagen konnte, das den Zusammenhang mit ihrem früheren Leben eingebüßt hatte, — gleich einer abgeschliffenen, kurrenten Metapher, deren rätselhafte Genesis niemand mehr entwirren kann.
130Und mit dieser metaphorischen Sehnsucht imprägnierte sie meine Seele; sie goss sie in jede Nervenfaser, sie schlug sie wie Grenzpflöcke in den Umfang meines Empfindens, und sie machte mich so krankhaft empfindlich, so mystisch verschämt und so maßlos zynisch.
131Sie war es, die mich tränkte mit dem Ekel vor dem Geschlechtlichen, die den ersten Zerstörungskeim in die Verbindung zwischen meiner Seele und dem Geschlechte säete, die den Zwiespalt meiner physischen Hereditäten noch tiefer spaltete.
132Immer empfand ich mich als den Bauern mit dem ausgesprochenen Rechtlichkeitssinn, der naiven Verschlagenheit, der Neigung zur ruhigen, freudelosen Beschaulichkeit, in der Jahrhunderte starren Protestantentums und mühevoller Arbeit lebten. Aber neben dem Bauern, der Jahrhunderte lang mit dem Ochsen zusammen am Pfluge zog, der seinen Rücken vor dem Schlossherrn beugte, dessen Füße platt und dessen Hände schwielig wurden, lebt da in mir der Aristokrat, dessen Ahnen von den Steppen des heiligen Irans in die europäischen Ebenen zogen und die Autochthonen sich dienstbar machten, — der Aristokrat mit der maßlosen Frechheit und prahlenden Verlogenheit der herrschenden Klasse, der Aristokrat mit der Treibhaushitze des Raffinements, das Jahrhunderte von Züchtung, Herrschaft, Üppigkeit und Nichtstun erzeugen.
133Und so musste das Heterogene aneinanderprallen, so musste es Krieg geben. So mussten alle Willenshandlungen in mir sich paralysieren.
134Niemals gab es in mir Liebe und Synthese.
135Ich bin das Urbild aller Zentrifugalen, das Urbild der Auflösung und Zerstörung.
136Ich bin die Walpurgisnacht am Hexensabbath der Entwickelung, das Mene Tekel, in dem sich meine Zeit in den letzten spasmatischen Zuckungen austobt.
137In jede Nervenfaser drang dieser Zwiespalt hinein, in zwei parallele Nervenströme teilt er jede meiner Sensationen: jede immer Lust und Schmerz zugleich. Sie überfluten einander, sie wollen einander aufreiben, und immer ist die Schmerzempfindung die siegreiche.
138Kaum empfinde ich das leise Prickeln eines Lustgefühls, schon höre ich das Klopfen und Hämmern des Schmerzes, und dann tut sich eine wahre Orgie auf, wo die Lust zum Wahnsinn wird unter den giftigen Bissen der Schmerzschlange, eine Orgie von wildem brünstigem Hengstgewieher und stillem, verbissenem, höhnisch grinsendem Lachen eines Janushauptes mit Lucifer– und Erzengel-Michael-Gesicht.
139Und diese meine Degenerationserscheinungen werde ich jetzt zu Hilfe nehmen.
140Jetzt werde ich die faule Bestie von Geschlecht aus ihrer Höhle an den Ohren zerren, und ihr mit der weißen Eisenbitze meiner Lust den Rücken sengen, und in ihre Sohlen den spitzen Stachel meines Schmerzes keilen, dass sie schreit und tanzen, Herrgott, tanzen lernt.
141Mit den Bildern, die meine kalte, raffinierte Unzucht gebar, werde ich sie stacheln, bis ich mich wieder Mann fühle, ich armer Märtyrer deiner Üppigkeit, du junges Gehirn.
*
142Mein Gehirn habe ich auf die grüne Weide geschickt, auf das sterile Moor meiner Heimat; jetzt bin ich ganz Synthese, ganz Konzentration, ganz Geschlecht.
143In meinen Armen ruhst du, und es ist Nacht.
144Wir küssen uns, dass uns der Atem ausgeht, dass wir ineinander aufgehen, wesensgleich werden.
145Ich presse meine Lippen in deinen fiebernden Busen, dass meine Brust sich weitet von dem langersehnten, heißbegehrten Glück; ich schmiege deinen Pantherleib so innig an mich an, dass ich dein Herz an meine Mannbrust klopfen höre und seine Schläge zählen kann, dass ich den Blutstrom, der durch deinen Körper rast, an meinem eigenen sich entlang gießen fühle und die Wollustschauer, die deinen Körper durchzucken, meine eigenen werden.
146Ich wühle mich in dich hinein; ich fühle, wie sich deine Glieder bäumen in der dionysischen Ekstase eines Wollustkrampfes, wie sie auffahren in dem wüsten Erethismus einer schmerzhaften Lust.
147Fester — tiefer — noch tiefer, dass ich deinen unsterblichen Geist packe in dieser unerträglichen Hitze meiner Brunst, in dieser tollen Farce meiner Sinneslust, in dem keuchenden Hallelujah meiner Wollust.
148Und jetzt bin ich die Inkarnation des Logos, als er zum Evangelium des Fleisches wurde; jetzt bin ich die allgewaltige Allsexualität, der Verknüpfungspunkt vom Vergangenen und Kommenden, die Brücke zum Jenseits der Zukunft, das Unterpfand einer neuen Evolution.
149Nun weiß ich nicht mehr um meine Qual; ich sauge an deinem Geiste; immer tiefer zieh ich ihn in mich hinein, und in dieser Wesenseinheit und Wesensvertauschung, in dieser Auflösung meines Seins in dem deinigen, in diesem Ineinandergreifen der Räderzähne unsrer tiefsten und intimsten Gefühle, in diesem übermenschlichen, rücksichtslosen, im himmelstürmenden Triumph der Geschlechtsfreiheit aufjauchzenden Willen zur Zukunft und Unsterblichkeit, hab ich deinen Geist mit den zitternden, bebenden Fingern gegriffen.
150 151 152Wie Quecksilber zerstäubt er unter meinen Fingern; und da bist du da, — da liegst du in deiner göttlichen Nacktheit, in der Schamlosigkeit deines Geschlechtes, und ich schaue dich an als etwas Fremdes, Weites, Millionen Meilen weit Entferntes, und ich blicke in deine abgründigen Augen, die vielleicht nicht einmal Oberfläche sind.
153Aber nein, — nein, — um Gotteswillen nein!
154Mit der zuckenden, schauernden, hirnzerrüttenden Leidenschaft, mit der fiebernden Glut, die mein Gehirn durchtobt, mit der ungestümen Kraft meiner lusterstarkten Glieder will ich mich von dem Erdbeben deines Fleisches schütteln lassen, nichts fühlen als die bleiche Hitze deiner Glieder, nichts hören als das jagende Sausen meines Blutes, nichts empfinden als das stechende, brutale Weh des Liebesdeliriums, — ich will aufhören zu leiden in dem Siegesdithyrambus des Geschlechtes, der tosenden Brandung einer schauerlichen Symphonie des Fleisches.
155Und sage mir, wie du mich liebst! sag' es unter dem begehrlichen Gezucke deines Leibes, brenn' es mir in meine Glieder, senge es auf meine Lippen, atme es in mich hinein, dies heiße, gierige, ekstatische:
156 157Sag, sag, sag es mir — wie — wie liebst du mich?
158 159 160Ich brauche deine Liebe nicht — was willst du von mir — ich kann dir ja nichts geben — was sollt' ich mit dir — ich weiß ja nicht, was ich mit dir anfangen soll! —
161Steh auf; zieh dich an; und bewundere ja mein großes Gehirn, das solche lustige Farce von Pubertäts– und Gymnasiastenliebe in Szene setzen kann.
162*
163Auf dem Grunde meiner Seele liegt ein finsteres, schauerliches Geheimnis von einer wahnsinnigen, satanischen, schwarzen Messe, in der das sterbende Geschlecht sich austobte mit seiner zerstörenden Agonie und Todeskrämpfen, als es zum letzten Mal das δοσ μοι που στω war und mich aus meinen Angeln hob.
164Und so will ich es preisgeben; preisgeben den Triumph der epileptischen Brunst, noch einmal alles durchleben in einer Intensität, als ob es heut geschehen wäre, noch einmal schwelgen im Genusse meines geschlechtlichen Vampirtums, und noch einmal mich empfinden als das übermächtige Geschlecht, das mein Gehirn als dummes, lächerliches Spielzeug gebrauchte.
165Ich weiß nicht, ob es Traum war oder Wirklichkeit; ich weiß nicht, ob es nur das halluzinatorische Bild von einer Idee war oder umgekehrt die Geburt von Ideen aus vielleicht ererbten, a priori in mir liegenden Bildern.
166Die Linien des Tages fließen in die der Nacht hinüber; über dem hellen Mittag ruht die große, blutrote Scheibe des Mondes, und in dem Wasser des abgründigen Brunnens spiegeln sich am lichten Tage Millionen von Sternen in mitternächtiger Finsternis.
167Mein Gott! Vielleicht war es nur das psychische Epiphänomen von physischen Zerstörungsakten, von alkoholischem Delirium, von Fieberhitze oder — aber das ist ja gleichgültig.
168Jedenfalls hab' ich ihn erlebt, den Todeskampf meines Geschlechtes.
169Ich saß regungslos da, die Faust tief in den Mund gesteckt, mit hervorquellenden Augen, schmerzhaft verzerrter Gesichtsmuskulatur, ein brutales Raubtier.
170Etwas musste ich in mir zerstören, mit meinen Zähnen in das Innere beißen, tief, langsam, immer tiefer; behutsam es abreißen, damit der Schmerz stärker, langsamer, grausamer wäre; mit den langen, spitzen, scharfen Zähnen musste ich es tun.
171Seit zwei Tagen schlief ich nicht; ich aß nicht. Ich trank nur reinen Spiritus, weil meine Geschmacksnerven stumpf geworden waren und ihre Leitung nach dem Rachen unterbunden war.
172 173Meine Gefühle bewegten sich in wunderbarem Takt zu einer schauerlich-gespenstisch-tiefen, wüsten, starren Musik mit dem Gesichte eines altmexikanischen Götzenbildes.
174Jeder Ton war wie ein Stück geschmolzenen Metalls, das in eine fürchterliche Hitze geriet und in das Spektrum meiner Seele niedertropfte und dort eine Linie zeichnete.
175Ich hörte die Musik nicht, ich empfand sie deutlich als ein großes, endloses Spektrum mit grellen, ganz naiv grellen Farben.
176Es erinnerte mich an die Farben, mit denen ich einen assyrischen Löwen bemalt sah.
177Es wunderte mich nur, dass ich das Ultraviolett ganz deutlich empfand, aber nicht als Farbe, sondern übersetzt in eine Rückwärtswelle, in ein Etwas, das sich immerfort in regelmäßiger, rhythmischer, ganz deutlicher Rückwärtsbewegung befand und nicht schwinden wollte.
178Ich hatte beinahe die Empfindung, dass ich betrunken und die Koordination meiner Bewegungsmuskulatur ausgeschaltet sei.
179Ich sah die Musik in brennenden, lichterlohen, ätzenden, großen Flammenfarben; ursprünglich dachte ich an ein Gangrän, so schmerzte mich die Glut zuweilen. Zuweilen fühlte ich Nichts, und dann empfand ich ein Sinken und Sinken und griff verzweifelt um mich, um wieder hochzukommen, um mich wieder heraufzuarbeiten.
180Nur Das verstand ich nicht, wie ich es mit den Zähnen packen und herausreißen könnte; es war da, ich wusst' es ganz genau, und ich musste es heraus haben — ja! das, woran ich diese dunkle Erinnerung hatte, ohne mich besinnen zu können, was es war.
181Es war ganz finster, und an den Scheiben weinte still, lautlos in sich hinein der Regen.
182In mir das Spektrum wurde intensiver, brennender; es setzte sich um in eine endlose Reihe differenzierter Schmerzgefühle.
183Jeder Tonstrich wurde zu einem besonderen Schmerzgefühl.
184Eine feine, lange Reihe mit deutlichen, durchsichtigen Fingern und ganz spitzen Krallen.
185Sie stachen wie dünne, bis zur Weißglut erhitzte Nadeln in mein Gehirn hinein in regelmäßig wechselnden Zwischenräumen, ganz so wie die Nadeln auf einer Leierkastenwalze in die Tonplattenskala stechen.
186Und jede brachte einen neuen Schmerzenston hervor.
187Zuweilen war es mir, als ob die Nadeln zu Orgelpfeifen wurden, auf denen irgendetwas in den unglaublichsten Hundertzwanzigsteln eine grauenhafte, grässliche Symphonie der Qualen spielte, eine orgiastische Cadenza von brutalen Leidensdelirien.
188Ich schrie auf wie ein Tier, mit der Bauchmuskulatur glaub ich, denn plötzlich empfand ich in der Nabelgegend einen fürchterlichen, stechenden Schmerz.
189Ich schrie noch einmal, noch stärker; ich musste schreien. Ich verdoppelte absichtlich die Stärke meiner Anstrengung; ich freute mich darüber; absichtlich tat ich es.
190Mein Bewusstsein verlor mich niemals, nicht einmal das wissenschaftliche Bewusstsein; ich dachte ja noch immer in wissenschaftlichen Symbolen.
191 192Mir war, als ob ich eine Zange, eine feine, dünne Zange an die gangränöse Seite angelegt hätte, die ich mit den Zähnen nicht erfassen konnte; und nun zog ich langsam an ihr, ganz langsam — o, es war eine wüste Wollust.
193Ja, das war es: ruckweise musste ich ziehen.
194 195Nun musst ich mich noch schlagen; mit Keulenschlägen gegen den Schädel, so, dass Splitter herumflogen; einen fürchterlichen Schlag gegen die Lambdanaht, dann wird der Hinterschädel wegfliegen und das Kleinhirn wird freigelegt.
196Aber nein — nein — nein: — viel feiner musste ich es tun, grausamer, raffinierter.
197Plötzlich zitterte ich am ganzen Leibe: die ultraviolette Rückwärtswelle setzte eine fürchterliche Brandung in Szene, ich wurde förmlich nach hinten gezogen, geschleppt, gerissen, wie wenn ich starke Stöße gegen die Brust bekäme.
198Ich wusste, was es bedeute, aber ich wagte es nicht zu denken; ich durfte es nicht wissen, und ich wusste es selbstverständlich ganz gewiss nicht — nein, nein, nein!
199Ich sprang auf; ich war ganz lustig; ich tanzte und pfiff, pfiff einen schrillen, einzigen, langen Ton.
200Ich richtete meine ganze Seele auf ihn; ich horchte auf ihn, streichelte ihn, modellierte, liebte ihn, schuf aus ihm eine Landschaft, so wollig wie ein weiter Tuchmantel aus feinen ultravioletten Farben; ich wickelte mich in ihn ein. Es war ein bisschen traurig, aber das war die Traurigkeit eines Kindes, wenn es ausgeweint hat; tausend lustige Engelsäugelein lachten hinein — ganz, ganz kindlich.
201Es war auch … ein … klein … wenig — — kalt.
202 203Die Brunst nach den weichkalten Totenhänden überkam mich; eine Brunst, schauerlich, grässlich. Sie überwucherte mich, sie umraste mich mit apokalyptischen Flügeln, und ich musste sie tot machen, sie bekämpfen, hypnotisieren, wieder in den Schlaf einlullen mit langer, wohlgesetzter Rede, schöner, wissenschaftlicher Rede.
204Ich stand auf, ich reckte mich lallend empor mit majestätisch dozierenden Gebärden.
205Sie ist wie eine Zelle, die erkrankt. Sie wächst, schwillt an, Blutgefäße wachsen in sie hinein, sie produziert Gift, sie schreitet zurück bis in den mystischen Abgrund, wo sie zum sexuellen, autonomen Organismus wird, und sie vermehrt sich in einer zerstörenden, satanischen Brunst, sie wächst sich aus in dem Machtgefühle ihrer brutalen Hysterie, und alle Lebenssäfte saugt sie an sich, sie zwingt den Blutumlauf in sich zu gipfeln, sie zieht die Leukozyten aus den Blutbahnen heraus und tränkt sie mit ihrem Gifte und zwingt sie den Giftstoff in den ganzen Körper zu verschleppen, und nun kommt die scheußliche Orgie von geschlechtlicher Schweinerei, die wüste Symphonie der syphilitischen Infektion! —
206Der Schweiß rann mir von der Stirne, kalter, feuchter Schweiß; ich hatte die Empfindung, die ich oft bekam, wenn ich in den Anatomiesaal trat an kalten Wintertagen und die Leichen beim Sezieren betastete.
207Alles war in Ordnung in meinem Gehirn. In der Agonie meiner Angst geriet ich in ein Stadium physiologischen Hellsehens; ich hörte alle meine Adern klopfen, ich hörte die Arbeit des Stoffwechsels, und rastlos sah ich zu, wie es wuchs, wahnsinnig, maßlos, in außereuropäischen Dimensionen.
208Ich zerteilte mich; wie der Kapitän eines untergehenden Schiffes stand ich auf der Höhe der Kontrollstation meines Bewusstseins und sah dem Kampfe zu.
209Jetzt musste ich aber eingreifen, und instinktiv fing ich an zu sprechen, laut, schreiend, zusammenhanglos, um mich zu betäuben.
210Und aus der inhaltlosen Wüste meiner Sprache vernahm ich nur ein wütend höhnendes:
211Huh, huh! Ich bin das Luder von Nana, ich setze mich auf den Muffat und reite auf ihm und schreie:
212Huh, huh! Wioh, mein Pferdchen, wioh!
213Und immer deutlicher und deutlicher fühlte ich die Totenhände; wie lange Stangen streckten sie sich mir aus irgendeiner Höhle entgegen. Mein Gehirn produzierte mit einer übermenschlichen Halluzinationskraft diese Hände. Immer deutlicher fühlte ich ihren Druck; wie eiserne Spangen umklammerten sie meine Hände, sie bohrten sich in sie hinein, sie zogen und rissen an mir, ruckweis, und ich fühlte, wie mein Körper abwechselnd widerstrebte und nachgab und nach hinten fallen wollte, Ruck für Ruck. Ich wurde gerissen, gezogen, geschleppt, gezerrt, Schritt für Schritt, in ohnmächtigem Widerstand, bis ich in das Nebenzimmer hineinfiel.
214Im Scheine einer Totenkerze lag ein totes Weib.
215Der Docht war ausgebrannt; das Licht flackerte und warf spielende Schatten auf ihr Gesicht.
216Ich hockte mich hin, und in den Haarwurzeln empfand ich deutliche Prickelgefühle, wie Nadelstiche auf der ganzen Haut.
217Es war etwas in ihren Zügen, das mich zog zugleich und bannte. Auf dem mit Lichtern und Schatten wie ein Tigerfell gesprenkelten Gesichte sah ich eine schauerliche Vision: weit aufgerissen ein Klapperschlangenmaul mit eigentümlich hin und her züngelnder Zunge. Ich hörte deutlich ein Zischen, vielleicht war es mein eigenes.
218Auf einmal kauerte ich nieder wie ein angeschossenes Wild; ich wollte in mich versinken, mich in mir selbst verstecken, aber sehen musst’ ich es durchaus.
219Die Leitung zwischen mir und dem Totengesichte war so stark, dass ich deutlich fühlte, wie mächtige galvanische Ströme mir die Augen auffraßen; aus meiner Kehle fühlte ich eigentümliche Laute sich reißen, mühsam, qualvoll, in wilder Geburt.
220Meine Lippen spitzten sich unwillkürlich zu einer prustenden Bewegung: ich machte es der Totenmaske nach.
221Es sind Leichengase, schrie etwas in mir.
222Nein! sie spricht, sie spricht, — Herrgott, sie spricht!
223 224In diesem Moment stürzte ich auf den Boden und fiel in ein brütendes Sinnen. Ich hörte nur noch ihre Stimme, die von sehr weit herkam.
225Alles wich zurück; ich saß mit ihr in einem hellen Café, in einem mystischen Clair-obscur.
226— Mein Gott, wie ich dich liebe! Alles, alles an dir lieb' ich; deinen eigentümlichen, schleppenden Gang, als ob dich deine Beine nicht mehr tragen wollten; deine schmalen, langen, aristokratischen Füße liebe ich, und deine Hände.
227Und die Form deiner Augen liebe ich, und deinen Mund; Alles, alles.
228Und wenn du spielst, so hast du ganz, ganz eigentümliche Bewegung in den Händen; du haust hinein in die Tasten mit einer Wucht und Macht, als ob dein sterbendes Geschlecht dort säße, wie du sagst.
229Nur deine Haare pflegst du nicht; man muss sie doch bürsten.
230Sie sah mich ganz lustig an; aber ich war müde, satt, und Ekel fraß an mir.
231 232 233Sie sah mich ängstlich an und schmiegte sich an mich.
234— Liebst du mich? fragte sie und streichelte mein Haar.
235— Vielleicht; ich weiß nicht mehr.
236Ich rückte meinen Stuhl ganz sachte von ihr weg. Sie starrte mich an, mit derselben entsetzlichen Angst im Blick, wie mein alter Hund mich ansah, als ich ihn totschießen wollte, weil er nicht mehr zu gebrauchen war.
237Ich stützte meinen Kopf auf die Marmorplatte des Tisches und stierte in das Wasserglas, um sie nicht zu sehen beim Sprechen:
238— Siehst du, wenn man degeneriert ist und krank, dann weiß man niemals um seine Zustände; sie verändern sich nämlich fortwährend, jetzt noch Liebe und Glück und im selben Augenblick Hass und Ekel —
239Ich wollte sie ansehen, aber ich konnte nicht.
240 241 242Es klang hart; wie aus einer zerbrochenen Metallglocke kam es heraus.
243— Du bist doch vernünftig, du bist auch alt genug, ich muss dir offen alles sagen …
244 245— Kennst du die Kreuzersonate von Tolstoi; ich meine das mit dem geschlechtlichen Hass und das mit dem Ekel; verstehst du?
246Ich fühlte, wie ihr Körper zitterte, wie sie in sich zusammensank.
247Und nun wurde ich seltsamerweise brutal; ich fühlte Freude an ihrer Qual, ich spürte etwas von Lustmordinstinkten in mir.
248Ich sprach ganz kalt und klar, beinahe zynisch.
249— Siehst du, ich quäle mich; ich habe mich von Anfang an gequält. Wie du die erste Nacht bei mir bliebst und, todmüde wie du warst, einschliefst, habe ich, Traumexperimente mit dir gemacht. Ich stand auf, — Herrgott, dein Leib war mir so gleichgültig, so unendlich gleichgültig; ich nahm eine Wasserkanne und goss Wasser in eine Schüssel, immer stärker, immer stärker, bis du erschrocken erwachtest. Ich fragte dich liebevoll, was du geträumt hättest, und ich freute mich, dass dein Gehirn mit solcher Exaktheit und Präzision auf den Außeneindruck geantwortet hatte. Du weißt es wohl noch, du träumtest, dass in deiner Vaterstadt ein Feuer ausgebrochen wäre und die Leute mit Wasser und Löscheimern kämen.
250Ich fühlte ihre Augen starr auf mich gerichtet, dass sie mich körperlich berührten.
251Jetzt musste ich einen entscheidenden Schlag führen:
252— Herrgott, du konntest mir kein Glück geben, und jetzt. … Hör mal, ich bin ganz brutal, aber — ich kann's nicht mehr aushalten, ich empfinde dich als eine Last. …
253In diesem Augenblicke sah ich sie am Ausgang hinter der Portiére verschwinden.
254Ich sank in mich zusammen und starrte das Glas an:
255Sie ist gegangen — fort … fort …
256In meinem Gehirne fing es an zu dämmern.
257Ich empfand Angst, unerhörte Angst; ich fuhr auf, sie zu suchen. Plötzlich riss ich mich empor; die ganze Vision, die mein Gehirn spontan, vielleicht in ein paar Sekunden der Ohnmacht produziert hatte, war verschwunden.
258Wieder sah ich das Weib auf dem Totenbette liegen.
259Ich suchte den Kausalnexus zu knüpfen zwischen dem Café und dem Totenbette; vergebens. Nur eine steigende Angst, gemischt mit einer orgiastischen, qualvoll bangen Brunst nach ihr, wollte mir die Brust zersprengen.
260Und das tote Gesicht sprach in wechselnder Kerzenlichtsprache, und sah mich an mit lüsternen, üppigen Augen.
261Und immer stärker fühlte ich, wie die Hyänenbrunst sich in mir reckte; und in der unerhörten Intensität des wachsenden Tieres reintegrierte sich mein Gehirn.
262Jetzt wusste ich genau, dass ich sie berühren musste; nur noch die Sanktion meines Gehirnes fehlte dazu.
263Und mein Gehirn hatte Mitleid mit mir.
264Ich erinnerte mich plötzlich, dass nach einer alten Sage auf dem Grunde des Totenauges der letzte Todeskampf zu sehen sei.
265Das musste ich sehen, das große Lebensrätsel auf dem Grunde des Totenauges, die wüste Brautnacht, in der sich Tod und Leben paaren.
266Ich hatte nur den einen Gedanken, der über mein Gehirn hinausging, der mit dem spitzen Ende in den Grund des Totenauges griff und dort mit dem andern Pol zusammenstieß; die Leitung war geschlossen. Ich fühlte Funken in mein Auge springen, deutliche, blassgrüne, elektrische Funken.
267Die Drähte der Leitung brannten an den Polen ab, sie wurden immer kürzer, ich musste immer näher rücken; wie eine Pantherkatze schlich ich langsam an die Leiche heran, — ich war dicht an ihr.
268Mit irren, keuchenden Fingern suchte ich das Lid zu heben; ich zitterte und flog an allen Gliedern; ein fürchterlich verzerrtes Wollustgrinsen lag auf dem Gesichte.
269Mich überkam ein geschäftiges Treiben. Ich hob das Lid mit kunstgerechtem Griffe langsam hoch, geschäftsmäßig, wie bei der Augeninspektion; aber meine Finger glitten das Gesicht herab, sie betasteten es, ein Fieberparoxysmus überkam mich, ich arbeitete mit autonomen Gliedern, ich hatte die Empfindung, dass mein Kopf mir durch das Fenster flöge, und ich lachte und schrie und fühlte meine eignen Laute auf mich zurückprallen, wie Steinwürfe, — ich küsste ihr Gesicht, ich riss und sog an ihr, und plötzlich biss ich mich mit geifernden Lippen, wie ein Vampir, schrill in ihre Brust hinein.
270Und ich zog und zerrte an dem toten Fleische, und ein Lachen, drin ein jeder Muskel meines Leibes in wilden Erethismen aufschrie, würgte mich im Halse, und plötzlich — fuhr ich taumelnd zurück.
271Es geschah etwas Fürchterliches.
272Das tote, blutende Weib reckte sich in fürchterlicher Majestät im Sarge auf, und mit weit ausholender Armbewegung, mit jäher, fürchterlicher Wucht stieß sie mich mit beiden Fäusten in die Brust.
273*
274Außen wurde zu Innen, das Schauen zum Scheinen, Lust zu einer ätzenden Lauge, Schmerz zu einer eklen Spinne, die das Herz ansticht und ihm das Blut aussaugt, Wohlbehagen zur stinkenden Pfütze.
275Und du? Wo bist du? — Lebst du? bist du tot? ich weiß es nicht. In meinem Gehirne sind Lücken und Löcher; zwischen den einzelnen Bewusstseinsepisoden fehlt es am Kausalzusammenhang.
276Übrigens — das ist ja ziemlich gleichgültig.
277Jetzt handelt sich's nur darum: Was nun?
278Aber im vollen Ernste: was nun? —
279Und wenn es doch einen Gott gibt? Wenn die Seele unsterblich ist; und die katholische Kirche am Ende doch die alleinseligmachende Gnade verleihen kann?
280Ja, ja, ja: die katholische Kirche! Die Allmutter, die Isis, der siebente Schöpfungstag des Geschlechtes mit den brünstigen Offenbarungen ihrer Schwangerschaftshysterie, der ins Jenseits ausgewachsene Pan-Uterus, der die ganze Welt umfängt und umtrieft mit seinen blutigen Flimmerfasern.
281Und wenn die wahnsinnige sexuelle Sehnsucht kommt nach den ursprünglichsten Geschlechtsmysterien, wo man große Geheimnisse schaute, die verloren gegangen sind, Mysterien, die man noch vielleicht mit einem Monerenleib empfinden konnte, aber niemals mehr mit differenzierten Sinnesorganen: wo soll ich diese verzweifelte Sehnsucht austoben, wenn nicht in dem Schöpfungsakt der physiologischen Erinnerung an seine ersten Entwicklungsstadien, wenn nicht in der Gemütsorgie, die nur die Kirche geben kann, im mystischen Dunkel, in Weihrauchwolken, die alle Lebensfunktionen in der Sexualsphäre gipfeln lassen, in den barbarischen, übergewaltigen Orgeltonwogen, die das zarte moderne Gehirninstrument aus dem Gleichgewicht bringen, in der ganzen Umgebung, wo vier Kulturen aufeinander gepfropft und raffiniert-naiv aneinander gekittet sind.
282Wie sich dann die Reduktion des Gehirnes allmählich vollzieht, wie das Gehirn extensiv wird, dass die Seele rast und an die Grenzen der epileptischen Starrsucht kommt!
283Aber naiv, ganz naiv, ganz unbewusst müsste das genossen werden.
284Die Epilepsie ist sonst da, die künstliche Fallsucht des modernen Geistes, aber es fehlt an der psychologischen Form, in der man sich als Einheitswesen empfindet, sich mit seinen körperlichen Äußerungen identifizieren kann.
285Es fehlt der einheitliche Glaube.
286Der Glaube an Charcot und der Glaube an die göttliche Weihe der Besessenheit —
287der Glaube an Kant-Laplace und an die Erschaffung der Welt in sieben Tagen —
288der Glaube an die Gotteskindschaft Christi und an die Weisheit Darwins und Strauß-Renan's —
289der Glaube an die unbefleckte Empfängnis Mariae und an die primitivsten Tatsachen der Embryologie —
290 291 292 293Wie zwei Gangränherde wachsen meine Impotenz und der intensive Ekel sich entgegen und begegnen sich in ihrem Zerstörungswerk.
294Wie unterirdische Quellen, die aus unablässigen Regengüssen stammen, sickern sie unaufhörlich durch die tiefsten Schichten meiner Seele, alles auflösend, auslaugend, zerfressend.
295Wie das brutale Licht der Mittsommersonne zersetzen sie mir, vergiften sie mir den Nährstoff der Erde, in der ich wurzle, und dörren mir das Chlorophyll aus allem, was diesem Boden entsprossen ist.
296Und so wurde das Gold zu Kupfer entwertet und die schönsten Hoffnungen zerbröckelt und zertrümmert; die Gedanken verloren ihre Expansivkraft und sanken zu zusammenhanglosen Reflexen herab; die glück– und lebensreiche Welt der Dinge wurde zum wesenlosen, unbestimmten Symbol, grau in grau auf eine kalte Glaswand hingehaucht; das taghelle, sonnensatte Sehen zur kranken Halluzination, — und du — ja Du — du wurdest mir zu einer weiblichen Zentaurin mit Sphinxgesicht und struppigen Haaren, die dir tief in deine Stirn herabgewachsen sind, und mit den feinen Adelszügen meiner Mutter.
297Und mit den Hufen der Hinterbeine hast du einen Stern vom Himmel gerissen, dass er herunterfiel und zischend in den Stillen Ozean versank, und mit den Vorderfüßen greifst du über den Rand des Erdballs hinaus, des lächerlichen Erdballs, um mich hinauszutragen in die Unendlichkeit des Kosmos, wo der Raum zur Chimäre wurde und die Zeit sich in den Schwanz beißt, weil sie sich nicht ausdehnen kann.
298Und ich wälze mich auf dir und umfasse deinen Hals und sauge mich an deine Jungfrauenbrust fest und trinke aus deinen Venen die mit Blut gemischte Muttermilch.
299O, trag mich hinaus — hinaus, wo zerbröckelte Welten einsam herumirren und aufeinander platzen —
300wo dichte Strahlengarben der Sterne einander leise berühren, aneinander niederfließen und mit lichter, daunenweicher, zitternder Harmonie die Welt durchtönen —
301auf irgendeinen Punkt hinaus, wo die Anziehungskräfte der Sonnen sich aufheben und ich Schwere und Gewicht und alle Beziehung zu Raum und Zeit und Mittelpunkt verliere —
302mit sehnsuchtjauchzenden, sternenbrünstigen Flügeln hinaus, wo meine Größe auf ein lächerlich Atom zusammenschrumpft —
303auf etwas Atmosphärenloses hinaus, wo meine Formen verschwinden, wo ich mit dem All zusammenfließe und mich wie ein lavaflüssiger Meteor in den kosmischen Ozean stürzen kann —
304hinaus zum Trotz dem dummen Gesetz der Erhaltung von Kraft und Materie —
305hinaus in die auf– und niederflutende Rhythmik der Äthermolekeln —
306auf einen Millionenjahre von der Erde entfernten Stern hinaus, wo ich mich hinlegen kann und ausruhen und tausend Jahrhunderte nicht länger empfinde als einen Moment und die Entfernung zur Erde nicht weiter fühle als die Dogmenspitze des Urelements, auf der ich die Welt aufspießen und in die Sonne schleudern will, damit sie sich dort reinige und in ein Nichts, ein goldenes Sonnennichts erlöse.
307Aber nicht mal das vermag sie mehr; selbst da noch bleibt sie als ein Fleck, ein Sonnenschlacken kleben.
308Aber nur hinaus, hinaus, damit ich nicht brutal mich selbst zerstören muss!
309Wie ein Lichtschein will ich, durch tausend Medien gebrochen, von tausend Flächen zurückgeworfen, in meine Uridee zurückversinken, aus der ich geworden bin.
310Wie ein Strahl, der auf die Straße fiel und von ihr emporschreckt, ihrer feuchten, schmutzigen Wärme satt, will ich wieder zu der Ursonne hin. die mich hinausgeschickt hat, Glück und Freude den Menschen zu bringen. …
311Nur nicht in die Erde zurück: zum Fraß den Würmern, zu einer ekelhaften Kopulation mit Anorganisch-Organischem, zu neuem, kranken Leben durch tausende von Stoffwechselformen hindurch!
312 313*
314Jetzt beginnt die Agonie; es geht zu Ende.
315 316Ich lag im Bette; hinten am Kopfe fühlte ich wie angenagelt das endlos weite Bewusstsein, dass ich nun ein Ende machen müsste.
317Es war wie ein unentwirrbares Knäuel in meinem Gehirn, der in Vibration unter unausstehlicher Hitze geriet, in wahnsinniger Lust, sich selbst zu entwirren, sich in lange, feine, dünne Gedankenfaden auszuspinnen.
318Dann kam’s wie eine Flutwelle, zu starren Krampfzuckungen, über die sich eine Schlangenlinie von Unruhe nach oben wälzte, die immer dicker und schwerer und schwärzer wurde, immer schneller nach oben, immer heftiger, bis sie sich zur wilden Jagd entrollte, einer unsagbaren Agonie der Todesangst, wo das Gehirn auseinandergehen, sich selbst entfliehen und wie ein Stück einer geborstenen Welt in weiten, zentrifugalen Kreisen in idiotischer Tarantella um die Sonne tanzen will. Und so wurde wieder Ruhe.
319Ein leises, weiches, laues Behagen. Eine verzückte Schwärmerei, die sich auf tiefdunkelblauen, mit zerfließendem Gold verbrämten Kräuselwellen wiegte.
320Und plötzlich kam ein Starrkrampf.
321Das Gehirn geriet in einen tollen Veitstanz, und mit einem wilden Ruck wurde ich vom Bett emporgeschnellt.
322Ich fuhr auf. Die Gesichtsmuskeln verzerrten sich so, dass sie schmerzten, und die weit aufgerissenen Augen wollten qualvoll aus den Höhlen heraus:
323Da stand ich selbst in der Ecke, einen Revolver an der Stirn, und sprach mit fliegender, fiebernder Hast:
324Du tust es nicht! du tust es nicht! nein, am Gottes willen nein, du tust es nicht! —
325 326Herrgott, das war ja nichts, gar nichts, — das war ja nur mein Überzieher, der am Nagel hing.
327Ich legte mich erschöpft hin, setzte mich wieder auf, nahm meinen Kopf in beide Hände, umkrallte ihn ganz fest, sodass mich noch die Haut schmerzt.
328Unbewusste, banale, nicht gewollte Assoziationen zuckten auf; die Flutwelle löste sich in einzelne Tropfen, die sich ganz lang dehnten, als fielen sie von einem Tropfenzähler nieder, und verschwanden wieder — eins — zwei — drei — vier; ich habe sie alle gezählt, und ich habe die Empfindung des Glucksens gehabt.
329Nur Eins schimmerte durch, brach sich Bahn in der wilden Gedankenflut.
330 331Und dieser Gedanke fing an zu fischen und zu angeln in dem trüben Strom, und kokettierte so lange bis ein anderer Gedanke an den Köder biss:
332— Ja, und dann — tust du’s erst recht!
333Und beide Gedanken kamen sich näher und näher, und umarmten sich, und setzten sich auf ihre Schwänze, und bäumten sich ganz hoch, und verflochten sich; und mit weit zurückgebogenen Köpfen starrten sie einander an, — lange, durchdringend, und lächelten sich dann verständnisinnig in die Augen.
334 335 336So werde ich stehen, so die Pistole anlegen, so werde ich fiebernd sprechen: du wirst es nicht tun! du tust es nicht! — und zugleich ein Ruck, ein Jüngstentageslicht im Auge, ein Knall — und es ist getan.
337Ein Zittern überlief meinen Körper, das Herz schlug unregelmäßig, und an den Schläfen hörte ich das Blut in ungestümer Hast an meine flachen Hände klopfen.
338Die Unruhe wuchs, eine entsetzliche Angst nestelte auflösend an dem geschlossenen Zirkel meiner Gedanken, etwas wollte mich auf die Kissen niederdrücken, mein Leib krümmte sich unwillkürlich, um diesem Etwas nachzugeben, aber auf einmal fühlte ich ein Widerstreben, ich richtete mich gewaltsam, schmerzhaft auf und — sank in mich hinein.
339Ich brütete; starr, dumpf, gedankenlos.
340Ich wusste nur, dass ich mit Etwas zu Ende kommen, Etwas zu Ende denken müsse, wovor ich entsetzliche Angst hatte.
341Auf einmal griff ich in Todesangst mit beiden Händen den Bettrand: auf dem Fussboden kroch, auseinanderfließend, ein Lichtschein.
342Der grässliche Schreck war so lähmend, dass ich einen Augenblick das Bewusstsein verlor.
343Als ich zu mir kam, besann ich mich, dass man wohl im gegenüberliegenden Hause eine Lampe angezündet habe.
344Ein Gefühl unendlicher Entlastung überkam mich; ich wurde fast fröhlich.
345Aber dann besann ich mich, dass ich doch nur deshalb fröhlich wäre, weil der Lichtschein meinen Willen, der sich auf etwas anderes konzentrieren sollte, zersplittert hatte.
346Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn; das Gefühl, mich wieder dieser Qual ergeben zu müssen, fraß mit steigender Angst an meinem Gehirn.
347Ich kroch aus dem Bette, mühevoll, mit schwerem Kopf; ein Schwindel drohte mich zu Boden zu werfen, ich setzte mich auf die Bettkante, stützte die Ellenbogen auf die Knie, legte meine Stirne in die Hände und ließ das Blut nach dem Gehirn zufließen.
348Namenloses Mitleid überkam mich; heiße, große Tränen rollten über meine Wangen, und mir schien, dass an meinen Beinen etwas niederlaufe — mich fröstelte wohl. Damals konnte ich mich nicht besinnen, was es wohl wäre; es war mir auch gleichgültig — oh ja.
349Ich weinte auch nicht Befreiungstränen, ich weinte und sang: sang, wie ein wilder Indianerhäuptling das düstre Grablied an dem Rand des eigenen Grabes singt.
350Wie lange ich so saß, weiß ich nicht mehr.
351Plötzlich fühlte ich ein eisiges Gefühl; nach langem Sinnen projizierte ich dies Kältegefühl in die Fußsohlen.
352Also stand ich, und wollte etwas haben.
353 354 355Und alles schien vorbei zu sein.
356Ich rauchte mir die Zigarette an, bekleidete mich, riss das Fenster auf, und stand lange, lange, in majestätischer, übermenschlicher Ruhe, am Fenster.
357Ich dachte an nichts; ich reckte mich nur immer höher, immer breiter, in der grandiosen Majestät meiner Ruhe, in dem düsteren, maniakalischen, übermächtigen Willen nach Untergang.
358Eine Kindheitserinnerung zuckte plötzlich durch mein Gehirn.
359Ich sah mich in einer Dorfkirche. Es war ganz düster. Kerzen brannten in trübem Schimmer, wie Glutaugen, die vergebens den dichten Schleier des Weihrauchs, den der Priester der heiligen Monstranz gespendet, zu durchbrechen suchten. Sie bohrten sich zur Hälfte hindurch und verschwammen alsdann und tränkten und sättigten den Weihrauchnebel mit lichtem Gold.
360Eine ansteckende Krankheit raffte die Hälfte des Dorfes dahin, und jeden Abend sammelte sich das Volk in der Kirche und warf sich ganz lang auf den Boden, und stöhnte qualvoll, im Schweiß der Todesangst gebadet, zu Gott.
361Und dann erhob sich ein wilder, ächzender Gesang, in dem das Herz sich in blutenden Zuckungen vom Leibe riss, ein keuchender Gesang, den ein roher, physischer Wille zum Leben wie eine Sturzlawine über eine riesenhafte Fläche ausspannte, jeden Augenblick bereit, die ganze Masse zu zertrümmern und zu begraben.
362Und in den körperlichen, grausigen Refrain: Herr, errette uns! mischten sich Glockenklänge und Orgelbrausen, der Jüngstengerichtsschrecken und das tierische Wiehern der Kranken — und plötzlich fing das Volk, in wilder Verzweiflung, laut, wahnsinnig an zu schluchzen, und es rang die Hände, und warf sich in die Brust, und schrie, schrie unaufhörlich in der schauerlichen Agonie der Todesangst nach Gott.
363Und als der alte, graue Priester den Altar mit beiden Händen umklammerte und das Schluchzen seinen Körper hin– und herwarf, da kam ein unbeschreiblicher Massenwahnsinn über das Volk.
364Ich höre nur noch ein brüllendes Gewieher von Stimmen; ich sehe eine satanische Walpurgisnacht mit den unerhörtesten Torturen der Angst.
365Mich fasste ein entsetzliches Grauen vor dieser nackten Lebensbrunst, ein Grauen vor dieser epileptischen Todesangst, und willenlos, erstarrt, zitternd wiederholte ich unaufhörlich: Herr, errette uns!
366Über dem Volke thronte, grausam lächelnd, der Engel des Todes und bezeichnete die, die sterben sollten, mit einem flammenden Schwert.
367 368Aus meinem Kehlkopf ringt sich mühsam ein inbrünstiges, mit dem letzten Funken der Lebenslust aufflackerndes:
369 370 371 372Ich schaute auf die Erde; sie schlief. Ich sah nach dem Himmel; er war still.
373Ein unnennbares Gefühl beschlich mich vor dieser Grabesstille, dieser weiten Kirchhofsruhe.
374Es war ein Augenblick, als hätten unsichtbare Priesterhände das Allerheiligste aus dem Tabernakel der Natur hervorgeholt und zeigten es der Welt. Sie sinkt auf ihr Antlitz in starrer Ehrfurcht; erwartungsvoll, mit leisem Beben, in heiliger Verzückung fühlt sie dumpf den mystischen Moment erscheinen, in dem das Brot zum Fleische und der Wein zum Blute werde.
375Und jetzt müssten dreimal die Glocken erklingen, jetzt müsste sich ein leises, inbrünstiges Murmeln von kauernden Stimmen des Volkes erheben, und ein Zittern durch die Welt gehen, wie wenn Millionen sich in die Brust werfen:
376 377Die Erde ist still, der Himmel gähnt Ströme von blausilbernem Sternenlicht herab, und alles ruht in tauber Stille, weil Ich der Herr, der alles geschaffen hat, aus dem es alles entstanden ist, Ich König, Ich Gesalbter, Ich Erzpriester das letzte, das heilige Abendmahl einnehme.
378Eine tiefe Seligkeit, eine morgenblaue Seligkeit des künftigen Lebens ergoss sich mit weitem Strom in meine Adern; ich fühlte Flügel aus meinen Schultern wachsen; der ewigen Zukunft zujauchzender Gesang riss sich aus meiner Kehle; ich war heiter wie das Sonnenlicht des Südens, das mit dem Meerwasser spielt — da plötzlich überrumpelte mich der lauernde Wahnsinn, mit dem ich so lange gekämpft.
379Die Nacht würgt sich mit dem Tage in tödlicher Umarmung, das blutige Rot der Auferstehung wurde von der schwarzen Finsternis der Nacht ertränkt.
380Angst und Entsetzen recken sich wie Salzsäulen, die Medusenhäupter mit den grässlich aufgeblähten Schlangenleibern starr empor gerichtet gegen das Himmelssodoma.
381In meinen Augen sprüht ein schwefliger Funkenregen.
382Eine weite, flammende Furche zerreißt das himmlische Gewölbe, ein Stern lischt aus, wird rot wie eine flammende Gangränwunde, er bebt, er zittert, er fällt herab und reißt mit mächtigem Ruck eine ganze Sternenkette herab.
383Aus dem klaffenden Himmel seh' ich in Schwefelwolken und Feuerlava ein Gesicht hervortauchen mit zusammengekniffenen lasziven Augen, die Lippen geöffnet wie in höchster Wollustekstase, die Haare wie Feuergräben durch den ganzen Himmel hin zerrissen, —
384aus dem klaffenden Himmel seh' ich Frauenhände, schrecklich, körperlos, sich nach mir ausstrecken, —
385aus dem klaffenden Himmel seh' ich einen apokalyptischen Frauenleib wachsen; in weiten Schlangenlinien stürzt er auf mich zu, er umfängt mich; ich reiße mich los, ich keuche; ich kaure auf dem Boden, blutiger Schaum tritt auf meine Lippen —
386 387 388Sie die wüste Foltermagd, die sich an den entsetzlichsten Qualen weidet,
389sie, die den Onan neue Wollustorgien erfinden ließ, um ihn nachher den Qualen des Steinigungstodes preiszugeben, —
390sie, die ein gläubiges Volk zur Befreiung des heiligen Grabes trieb, um ihm zum Entgelt die Stirn mit dem Märtyrerkranz syphilitischer Geschwüre zu bekränzen, —
391sie, die dem Manne das Weib aus den Adern saugt und in verbrecherischer Brunst auf den Mann wirft, —
392sie, stärker als die Natur, weil sie die mächtigsten Instinkte irreleitet und ihr Gesicht mit blutschänderischem Sperma befleckt, —
393 394Auf meinen Lippen fühlt' ich deinen eisigen, unzuchtgeborenen Todeskuss.
395 396Seele, du meine starke Seele, die du Mir das Geschlecht auffraßest, wo bist du nun?
397Wo bist du, Gehirn, — du armes, krankes Gehirn, das du mein Gott, mein Vater werden wolltest in dem Größenwahnsinn deiner Übermacht, wo bist du jetzt, — jetzt, wo du mich gekreuzigt hast, — wo hast du dich verkrochen? —
398Wie ein roter, tauber Fleck ist die Sonne über dem Golgathaberge auf dem Himmel angeklebt, Trauerflor ringsum …
399*
400Durch mein Fenster drängt sich eine Flut brünstiger Schwüle, zeugenden Rausches der Nacht, geiler Jünglingsstimmen, die auf den Straßen die Weibchen locken.
401Ich sehe die Natur als eine apokalyptische Apotheose des ewig ragenden Phallus, der in maßlos roher Verschwendung Ströme von Samen über das All ergießt.
402Auf meinem Tische steht ein Strauß von Blumen, deren ganzes Leben im Geschlechte gipfelt, die sich mit schamloser Unschuld dem befruchtenden Samen entgegenrecken.
403Ich fühle die Wollustzuckungen des Schaffens, ich höre das stammelnde Liebesgeflüster der hermaphroditischen Erde, der heiligen männlichen Jungfrau, bräutlich umhüllt vom Schleier der Nacht.
404Und wie reich er mit goldenen Keimen besät ist! wie tief und dunkel er ist! —
405Aber über dieser Schamlosigkeit der Brünste, dieser Apokalypsis der Geschlechtlichkeit, diesem satanischen Evangelium der Sinnenlust —
406hoch über Zeugung und Befruchtung, Vergehen und Auferstehen, Oxydation und Reduktion, thront Meine hehre, tiefe, majestätische Ruhe der Sterilität! — Die Natur erschöpft sich; sie spart schon. Sie kann sich nicht mehr verschwenden wie einst, als die wahnsinnige Pracht der fossilen Flora und Fauna noch keinen menschlichen Geist entzückte; sie arbeitet jetzt — wie die armen Erdenwürmer — menschlich, geizig, nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes.
407Sie schafft keine Ichthyosauren mehr, keine Riesenmollusken, keine Stigmarien. Lächerliche, kleine, schwache Herdentiere schafft sie jetzt; sie erschöpft sich in den winzigen Bakterien, die ihre misslungenen Werke gnädig wieder auffressen, — und aus der Erde treibt sie kranke Blumen, in die der altersschwache Boden Giftstoffe liefert.
408Über dieser Jämmerlichkeit, über dieser Sparsamkeit und philiströsen Décadence waltet frei, maßlos, verschwenderisch, übermenschlich-expansiv wie Gasgewölk Meine große, aristokratische Seele in ihrer Grandiosität der Unfruchtbarkeit.
409Und so muss sie untergehen, weil sie zu groß und heilig geworden ist und zu königlich, um sich mit dem jämmerlichen, proletarischen Geschlecht zu assoziieren, das nur Kinder zu zeugen im Stande ist — nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes.
410Über der ganzen Welt, über dieser lächerlichen Mühsal, neue Orgien der Brunst zu schaffen, sich in neuen Entwickelungsformen zu objektivieren,
411über den brutalen Grausamkeiten des Geschlechts, das einen Menschen mit einer Gans paart,
412über der verbrecherischen Gewissenlosigkeit der Gottnatur, die Wesen auf die Erde setzt zum Wahnsinn und zum Veitstanz einer rohen Spielerei von ewigen Evolutionen —
413über all diesem thront Meine freie, ungeschlechtliche Seele mit ihrer Ruhe der anfangslosen Ewigkeit,
414sie, die heilige besiegte Siegerin,
415sie, die Allumfassende, Anfang sie und Ende,
416sie, der höchste, letzte allgewaltige Ausdruck Meines Stammes,
417sie, die sterben muss, weil das Geschlecht es will,
418sie, die sterben muss, weil sie selbst es will, weil sie nicht in Schmutz und Ekel leben mag, weil sie sich nach der Reinheit der Auflösung sehnt.
419Und so gehe ich, — gehe hinein in die rückschreitende Metamorphose des Stoffwechsels; freiwillig, von selbst …
420„Das Tier, von der Scholle losgelöst, mit inneren Wurzeln, ein automatischer Oxydationsapparat, entnimmt der Pflanze organische Verbindungen, Eiweißkörper, Kohlenhydrate, Fette, Sauerstoff, und gibt sie an Luft und Boden in anorganischer Form zurück.”
421„Die Pflanze, an der Scholle haftend, mit äußeren Wurzeln, ein bewegungsloser Reduktionsapparat, entnimmt der Luft und dem Boden anorganische Verbindungen und gibt sie dem Tiere in organischer Form zurück.”
422Und so weiter — und so weiter — ohne Ende, der ewige dumme Zirkel in rastlosen Metamorphosen.
423 424Du bist aus meinem Gehirn verschwunden, wie ein Blutextravasat, wenn es von Phagozyten resorbiert wird.
425Ich habe dich weggestoßen, wie das Eichen die Polarkörperchen wegstößt, sobald es reif wird.
426In dir sollte sich die mystische Synthese meiner selbst vollbringen, wo der Herr und der Bauer in mir sich friedlich die Hände reichten,
427du solltest meine intimsten Geschlechtskräfte sammeln, beleben und in der Brunst nach neuer Zukunft gipfeln lassen,
428du solltest leimen, was von Anfang an in mir zerbrochen war, das eiserne Rückenmark in die weiche Gallertmasse einkeilen,
429du solltest die feinsten Saiten in mir rühren, in denen doch vielleicht ein Stückchen meiner Seele in der friedlichen Umarmung des Geschlechtes bräutlich zittert, —
430das alles hast du nicht vermocht und bliebst mir fremd.
431Aber jetzt: in jenem Augenblick, wo ich doch vielleicht einmal Eines mit dir werde, wo irgendein Geschöpf die anorganischen Stoffe, in die wir dann zerfallen, in sich aufnehmen wird, um sie irgendeinem anderen Wesen organisch wiederzugeben:
432wo wir uns finden werden in einem und demselben Pflanzengefäß, auf einer und derselben molekularen Bahn:
433jetzt. Liebste, inmitten dieser lächerlich doktrinären Ideen will ich meine Stirn in deinen Schoß legen und will dir deine schönen, langen, feinen Hände küssen, — zu deinen Füßen werfe ich die schwere Last meiner Herrschaft über die Welt und alle Kreatur:
434ich gebe dir meine Seele zurück.
435Du meine über alles geliebte Totenbraut, du mit der unermesslichen Tiefe Meiner Leere geliebte! —
436Ich höre etwas, das tief ist wie die Welt, dunkel ist wie die Nacht und weit ist über alles Seiende hinaus.
437Es ist die Sehnsucht nach der Synthese, deren Wonne mich genial gemacht und über alle Menschen gehoben hätte, — die Synthese, die ich vergebens hoffte zu erlangen in Dir.
438So nimm zurück meine Seele. Mag sie wieder sich in Deine Formen gießen, um mit dir zurückzukehren in die eine große Uridee, durch die ich dich entstehen ließ.
439Kalter Morgenschauer kriecht durch meine Glieder; meine Zeit ist gekommen.
440Und wenn der junge, reine, heilige Tag über dem Geschlechtsbett der Natur aufgeht, der junge, weiße Tag, den Ich, der Beherrscher des Daseins, Ich, durch den und in dem alles ist, geschaffen habe, der ohne mich nicht existieren würde, dann bin ich nicht mehr da:
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